Die doppelte ursprüngliche Akkumulation

⋄ Nach der Theorie von Karl Marx setzte sich der Kapitalismus nicht friedlich durch, sondern enteignete die Bauernschaft auf brutale Weise und spülte sie als Mittellose in die Städte.

⋄ In der marxistischen Debatte ist jedoch umstritten, inwiefern dieser Prozess historisch war oder sogar bis heute andauert.

⋄ David Siegel analysierte die der
New Political Science die ursprüngliche Akkumulation in der Sowjetunion.

⋄ Für ihn gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Massenkollektivisierung der 30er Jahre und den Prozessen der Einhegung etc. in Großbritannien.

⋄ Jedoch hätte die Enteignung der Bauern nach 1991 nie so friedlich ablaufen können, wenn nicht schon eine gewaltbehaftete Vorarbeit geleistet worden wäre.

Seit Land Grabbing auf der politischen Landkarte der Linken aufgetaucht ist, erfährt auch die Marxsche Theorie von der ursprünglichen Akkumulation eine Renaissance. Ob in den indigenen Siedlungsräumen Südamerikas Bergbaukonzerne paramilitärische Truppen rekrutieren oder Finanzunternehmen im Westen Boden aufkaufen und von den Bauern ruinöse Pachten verlangen: es stellt sich die Frage, ob die kapitalistische Akkumulation nur noch über Renten bis teilweise außergesetzliche Gewalt funktionieren kann und ob sich der Schein der liberalen Marktgesellschaft und des Rechtsstaats allmählich lüftet. Damit verbunden ist die Frage, ob die ursprüngliche Akkumulation eigentlich ein historisches Ereignis war oder während des Kapitalismus immer präsent ist.

David Siegel lenkte in der New Political Science den Blick auf ein besonders spannendes Beispiel. In der Sowjetunion gaben die Bolschewiki den Bauern zuerst das Land von den Großgrundbesitzern, um ein Jahrzehnt später die Kollektivierung zu erzwingen. Haben also die Bolschewiki die Gewalt der ursprünglichen Akkumulation stellvertretend für die Kapitalisten durchgeführt und was sagt das über den sozialistischen Charakter des Staates aus? Siegel schlägt hier eine ganz eigene Interpretation vor.

Die ursprüngliche Akkumulation – Geschichte oder Prozess?

Karl Marx lehnte bekanntermaßen die Vorstellung von Adam Smith ab, dass im Kapitalismus der Mensch quasi natürlich und friedlich zu sich selbst gefunden habe. Vielmehr sei das „Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ (MEW 23, S.788) auf die Welt gekommen. Bäuer*innen wurden von ihren Höfen vertrieben und als Arbeiter*innen in die Städte gespült, wo sie lange Zeit ein elendiges Leben führen mussten. In der Fabrik seien sie diszipliniert worden, der Bourgeoisie und der Stechuhr Gehorsam zu leisten. Dieser Ansicht stimmten in der Folge auch die meisten Marxist*innen zu. Uneinig waren sie sich nur in der Frage, ob die ursprüngliche Akkumulation ein historisch abgeschlossener Prozess sei oder ob sie noch im Kapitalismus andauere.

Die bekannteste Vertreter*in der zweiten These ist wohl Rosa Luxemburg. Sie sagte voraus, dass sich der Kapitalismus auf Grund eines beständigen Nachfragedefizits in die nicht-kommodifizierten Bereiche der Gesellschaft ausdehnen müsse. David Harvey hält die Accumulation by Dispossession heute für den dominanten Akkumulationstyp (Näheres hier). Nicht der Verkauf produzierter Waren, sondern die Enteignung von Bodenschätzen oder Immobilien lasse heutzutage die Profite steigen. Anders hingegen argumentierte Kalyan Salyal. Der Kapitalismus könne nichts mehr aus einer unkommodifizierten Umwelt enteignen, da bereits die Subsistenzwirtschaft in der kapitalistischen Peripherie Bestandteil der Profitrechnung sei. Für Werner Bonefeld gibt es hingegen kaum eine Unterscheidung zwischen den Enteignungsprozessen der normalen produktiven Akkumulation und der ursprünglichen Akkumulation. Beide seien Facetten eines gemeinsamen Prozess. Und noch übergreifender argumentierte Ulas Ince, der die Gewalterfahrungen durch die ursprüngliche wie kapitalistische Akkumulation nur als Enden eines Spektrums von Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft ansieht.

Um sich im Dschungel der verschiedenen Theorien positionieren zu können, ist es unumgänglich, Fallbeispiele detaillierter zu untersuchen. Besonders interessant sind dabei jene Fälle, die etwas stärker vom britischen Modellbeispiel, das noch Marx vor Augen hatte, abweichen. Und einen solchen Fall stellt nach Ansicht von David Siegel die Sowjetunion zwischen 1928 und 1991 dar.

Die bolschewistische Diskussion der 20er Jahre

In Anerkennung der Tatsache, dass das russische Zarenreich beim Eintritt in den Ersten Weltkrieg ein weitestgehend agrarisch geprägtes Land und die Bauernschaft die größte Klasse des Imperiums war, schmiedeten den die Bolschewiki an einem Bündnis aus Arbeiter*innen und Bäuer*innen, dass seinen symbolischen Ausdruck in Hammer und Sichel fand. Mit den Forderungen nach Beendigung des Kriegs und der Durchführung einer Landreform gewannen die Bolschewiki die Sympathien jener ländlichen Massen, die in diesen Fragen von der provisorischen Regierung enttäuscht wurden. Die schnelle Einlösung der Versprechen sicherte die Unterstützung der Bauern im folgenden Bürgerkrieg. Jedoch hatte die Fokussierung auf die Bäuer*innen einen Preis. Diese waren anders als das Proletariat nicht durch die kapitalistischen Kollektivierungs-, Sozialisierungs- und Disziplinierungsprozesse gegangen. Nur wenige hegten Interesse am Aufbau des Sozialismus und selbst die Wirtschaft für den Markt genoss noch kein großes Ansehen. Vielen reichte ihre Subsistenz, Produktivkraftsteigerungen oder Verpflichtung gegenüber den Städten gehörten nicht zu den Traditionen und wurden mit der Gewalt der ehemaligen Grundherren assoziiert. Lenins Neue Ökonomische Politik, die den Bauern viel Freiheit beim Verkauf ihrer Erzeugnisse gab, löste die Versorgungsprobleme der Arbeiter*innenklasse zwar kurzfristig, war jedoch mit enormen Folgen behaftet. Händler wurden unanständig reich und die hohen Lebensmittelpreise drückten auf die Reallöhne.

In der Debatte der Bolschewiki standen sich hier unterschiedliche Lösungsansätze gegenüber. Bukharin war als Exponent einer Minderheit bereit, die NÖP weiter fortzuführen. Er argumentierte, dass ein Ausbau der Industrie die Preise für Lebensmittel senken werde. Die Bauern, deren Arbeit mit veralteten Methoden kaum noch gesellschaftlich anerkannt werde, würden sich industrialisieren müssen, um ihren Unterhalt zu sichern. Die Kollektivierung erfolge daher aus schlichtem Selbsterhaltungstrieb.

Dem widersprach Trotzki. Gerade weil das Bauerntum in der Produktivität zurückfalle, könnte es sich die Industrieprodukte – Dünger, Treibstoff, Maschinen – gar nicht leisten. Es entstünde eine Schere aus Industrie- und Agrarpreisen, deren Auseinanderklaffen organische Lösungen im Sinne Bukharins verhindere. Trotzki votierte daher zwar für eine forcierte Kollektivierung und die Abschaffung der NÖP, aber erst, wenn der Industrieausstoß die Nachfrage der Landwirtschaft materiell decken könne. Vorher habe man nichts von größeren Strukturen. Preobrazhensky hingegen wollte bereits sofort mit der Kollektivierung beginnen, aber nicht durch staatliche Anordnung, sondern durch Erdrückung der Kulakenklasse mit hohen Steuern, welche der industriellen Entwicklung zu Gute kommen sollten. Die finanzielle Liquidierung der Kulakenklasse würde die sozialen Unterschiede auf den Dörfern so weit abbauen, dass es keine Hinderungsgründe mehr für Kollektivierungsprozesse gebe. Alle drei Strömungen lehnten Gewalt ab. Eine hohe Steuer auf die reichsten 10% der Bauern waren die radikalste Forderung des linken Flügels gewesen.

Die Zuspitzung der Widersprüche

Am Ende überholte die Realität jedoch die theoretischen Debatten. Man könnte sagen, dass Trotzki in der Agrarfrage Recht behielt. Die unterentwickelte Landwirtschaft konnte im Jahre 1928 nicht einmal mehr die einheimische Nachfrage decken und zum ersten Mal musste Getreide importiert werden. Damit fiel jedoch auch ein wichtiges Exportprodukt weg, mit dem der Einkauf ausländischer Maschinen finanziert wurde. Die Industrialisierung geriet ins Stocken. Ohne ein Angebot an Industrieprodukten wiederum konnte der Staat nicht einmal mehr das produzierte Getreide kaufen. Bauern und Händler hielten ihre Waren zurück, hofften auf Exporte oder ließen es vergammeln. Dies erhöhte im Gegenzug die Akzeptanz in der urbanen Bevölkerung und bei den Bolschewiki, eine bisher undenkbare radikale Lösung anzugehen: die erzwungene Massenkollektivierung. Diese begann mit Getreidekonfiszierungen und der gewaltsamen Unterdrückung des Widerstands. Darüber hinaus wurden ab 1929 die Produktionsabläufe auf dem Dorf so umstrukturiert, dass sie vollständig überwacht werden konnten. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Kollektivierungsformen gebildet. Reale oder vermeintliche Kulaken wurden inhaftiert, in Arbeitslagern interniert und mit deren billiger Arbeit die Infrastruktur verbessert. Insbesondere in den Grenzregionen, wo bisher auch der Handel mit dem Ausland möglich war, wehrten sich die besitzenden Bauern, verkauften Vieh und Saatgut, zündeten Scheunen an, flohen oder organisierten bewaffneten Widerstand. Dies hatte wiederum eine Hungersnot zur Folge, von der Kazakhstan und die Ukraine am schwersten getroffen wurden.

Die verbleibenden Bauern verloren ihre Autonomie über Produktions- und Distributionsprozess. Verbreitete traditionelle Anbaumethoden wurden durch großflächigen maschinisierten Betrieb ersetzt. Die Verteilung der Erzeugnisse und Erlöse wurde zentral geregelt und während die Bauern in den 20er Jahren im Schnitt 14% ihres Getreides an den Staat abgaben, waren es nunmehr 40%. Die industrialisierte Landwirtschaft erforderte auch eine neue Produktionsweise. Die Bauern wurden vollständig proletarisiert; insbesondere die Jugend jedoch auch akademisiert, da der administrative und technische Aufwand stieg.

Die Massenkollektivierung – eine ursprüngliche Akkumulation?

Die Disziplinierung der Bauern, die Loslösung von der unmittelbaren Kontrolle über die Produktionsmittel und die Verflechtung aller Parzellen mit der gesamten Volkswirtschaft motivierten viele marxistische Historiker*innen dazu, die Massenkollektivierung als sozialistische Form der ursprünglichen Akkumulation anzusehen. Unter diesen wurde die Debatte dann im Wesentlichen darüber geführt, ob die ursprüngliche Akkumulation ein gewesen notwendiger Prozess sei und die Sowjetunion diesen habe nachholen müssen oder ob es sich um ein besonderes stalinistisches Verbrechen handele, zu dem es durchaus konsensorientierte Alternativen gegeben habe.

David Siegel bricht in seinem Aufsatz mit beiden Ansätzen. Für ihn unterscheidet sich die Massenkollektivierung ganz strukturell von der ursprünglichen Akkumulation. Der Großteil der Bauern sei auf dem Land geblieben und eben nicht als mittellose Proletarier in die Städte gespült worden. Zumindest formell blieb auch das Land im Besitz der Bauern, welche je nach Kollektivierungsform, Zeit, Region und Tiefe der Verwaltungsstrukturen gewisse Autonomie behielten. Und zu guter Letzt wurden die Dörfer, Höfe und Felder auch nicht kapitalisiert, sondern in einen Plan eingeflochten, der sich nun nur regider auf die Dorfbevölkerung erstreckte.

Ebenso dürfe nicht vergessen werden, dass der Lebensstandard nach der großen Krise 1932-34 auf dem Dorf kontinuierlich stieg. Die Kollektive wurden zum Kristallisationskern von modernen Bildungseinrichtungen, einer kostenlosen Gesundheitsversorgung und eines sich entwickelnden kulturellen Lebens. Der überregionale und sogar internationale Austausch entwickelte sich. Drei Jahrzehnte nach der Kollektivierung flog der Bauernsohn Yuri Gargarin als erster Mensch in den Weltraum. Hungersnöte gehörten abgesehen vom faschistischen Überfall und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion der Vergangenheit an. Siegel argumentiert daher, dass die Massenkollektivierung nur eine teilweise ursprüngliche Akkumulation gewesen sei, die auf Grund ihrer Halbheit viele Vorteile für die Bauernschaft beinhaltete.

1991 – die Vollendung der ursprünglichen Akkumulation

Wie groß der Unterschied zwischen den sowjetischen Prozessen der späten 20er und frühen 30er Jahre und denen des kapitalistischen Englands und Frankreichs gewesen war, wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion deutlich. Obwohl die Bäuer*innen die formellen Eigner des Landes und der Produktionsmittel blieben, verloren die meisten beides in wenigen Jahren. Dabei unterschied sich die Privatisierung in den einzelnen aus der Sowjetunion hervorgegangenen Nationalstaaten.

In der Russischen Föderation wurde ein Voucher-System eingeführt, mit dem die Landarbeiter*innen formell einen Anteil an den Agrarbetrieben hielten. Durch Steuerabgaben, Schulden und die Inflation waren die meisten jedoch während der 90er Jahre gezwungen, ihre Anteil zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Reale Verfügungsmacht über die Produktionsmittel hatten sie ohnehin nicht. In der Ukraine wurden die Kollektivwirtschaften an die Bäuer*innen aufgeteilt, jedoch versucht, bestehende Zusammenhänge zu erhalten. Diese Zusammenhänge wurden jedoch in der kapitalistischen Konkurrenz immer mehr durch Agrargroßbetriebe verdrängt. In Armenien, Kirgisien und Georgien teilte man die Betriebe in hunderte und tausende Privatparzellen auf, die jedoch Stück für Stück vom Großkapital aufgekauft wurden. In Kazakhstan verhinderten die Behörden unter Lügen und fadenscheinigen Vorwänden die Einlösung der Ansprüche auf das Kollektivland. In den baltischen Staaten wurde die sowjetische Landreform als derart illegitim angesehen, dass die Betriebe – ähnlich wie in Deutschland – an die vorsowjetischen Besitzer zurückgegeben wurden. Die ansässigen Bauern hatten keinerlei Anrechte auf den ehemaligen Kollektivbesitz. Trotz der großen Unterschiede in der Herangehensweise an die Privatisierung blieb das Ergebnis doch überall gleich. Ein großer Teil der Bauernschaft wurde zu freien Lohnarbeiter*innen. Der Widerstand der Bevölkerung gegen diese Enteignung blieb weitestgehend aus. Der gewaltsame Akt war bereits 60 Jahre zuvor vollzogen worden. Die Proletarisierung, die nur gewaltsam vonstatten gehen konnte, war bereits erfolgt und die Menschen hingen nicht mehr an ihrem Boden, sondern suchten mit nüchternen Augen nach neuen Arbeitsformen.

Zusammenfassung

David Siegel macht zwei sehr wichtige Punkte. Erstens zeigt er, dass die Kollektivierung in der Sowjetunion zwar ein gewaltsamer Prozess war, sich jedoch in vielen grundlegenden Fragen vom kapitalistischen Typus der ursprünglichen Akkumulation unterschied. Zweitens zeigte er, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht nur eine bis heute andauernde Verlaufsform besitzt, sondern auch über ein halbes Jahrhundert schlummern kann, um sich erst später zu vollenden.

Besonders interessant an Siegels Artikel ist die Verortung des Problems ursprüngliche Akkumulation in der Sowjetunion in den Debatten der Bolschewiki und der zeitgenössischen Debatte. Als Marxist*in sollte man sich vergegenwärtigen, dass selbst die augenscheinlich friedliche Existenzweise des Kapitalismus ein Gewaltverhältnis repräsentiert, welches auch jederzeit wieder in ihr Gegenteil umschlagen kann. Die Gewalt, welche erst das Lohnsystem in die Welt gebracht hat, ist die gleiche Gewalt, die es aufrecht erhält. Und diese Gewalt wird es auch bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.

Literatur:

Siegel, D. (2023): The Temporality of Violence in Primitive Accumulation: A Soviet Subsidy to the Capitalist Transition. In: New Political Science. Online First. DOI: 10.1080/07393148.2023.2237823.

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