Alphabetisierung in den Volkskommunen

⋄ Auf Grund der Individualisierung infolge der zunehmenden Privatisierung der Ökonomie hat die Kommunistische Partei Chinas zunehmend mit der Durchsetzung politischer Kampagnen zu kämpfen.

⋄ Sie muss vermehrt auf finanzielle Anreize setzen, was Korruption und Passivität befördert..

⋄ Yinhao Zhang erläuterte am Beispiel der Alphabetisierungskampagne in den Volkskommunen, wie die Produktionsverhältnisse das politische Bewusstsein der (Land)arbeiter*innen prägt.

⋄ Da unter Mao für Arbeit Arbeitspunkte vergeben und von den Bäuer*innen kontrolliert wurden, hatte die Landbevölkerung ein ganz materielles Interesse an der Partizipation an der Alphabetisierung, um die aufgeschriebenen Punkte auch lesen zu können.

⋄ Mit dem zunehmenden Interesse am Lesen nahm auch die Nachfrage nach Schulen zu, wodurch die Anerkennung für die Enteignung der Großgrundbesitzer nachhaltig stieg.

Die Öffnung Chinas zum Weltmarkt bedeutete auch den Einzug vieler bürgerlicher Verkehrsformen in die Volksrepublik. Unter anderem zählt dazu die Individualisierung des politischen Bewusstseins der Arbeiter*innen und Bäuer*innen. Das stellt auch die Kommunistische Partei zunehmend vor ein Problem. Die Menschen sind immer weniger aus Einsicht für die Partizipation an Kampagnen zu gewinnen. Entweder müssen materielle Anreize geschaffen oder Zwang ausgeübt werden. Beides verursacht jedoch Reibungsverluste und neue politische Differenzen, die sich zunehmend als gesamtgesellschaftliches Problem akkumulieren. Anstatt auf die Autonomie lokaler Verantwortung zu vertrauen, müssen viele Prozesse aus Schutz vor Korruption oder Vernachlässigung zentralisiert werden, was den bürokratischen Aufwand erhöht und die Partizipation noch weiter unterläuft.

In einer Fallstudie zur Alphabetisierungsbewegung in der Mao-Ära zeigte Yinhao Zhang von der Universität in Adelaide, dass die politische Form der Durchsetzung sozialistischer Ziele nicht losgelöst von ihrer sozialen Basis betrachtet werden kann. Um wieder effektive Kampagnen initiieren zu können, müssten die Arbeitsbeziehungen in den Städten und Dörfern neu organisiert werden, was auf einen Rückbau der kapitalistischen Eigentumsformen hinauslaufe. Die Studie wurde im aktuellen Chinese Journal of Communication veröffentlicht. Dieser Artikel ist Teil 2 einer kleinen Serie über Kollektivierungen.

Partizipation und ökonomische Basis

Egal, ob ein politisches System als demokratisch oder autoritär bis diktatorisch gewertet wird; jede Regierung braucht ein funktionierendes und effektives System von Kommunikation und Partizipation. Selbst der hypothetisch grausamste Diktator muss von den Unterdrückten oder den Kumpanen verstanden werden. Gewalt als Kommunikationsform ist dabei zwar möglich, aber weitestgehend ineffektiv. Mit jeder eingesperrten Arbeiter*in fehlt eine Produktivkraft und werden Kosten verursacht. Daher ist es bedeutsam, dass die Menschen auch ohne offene Gewalt an einem System partizipieren. Partizipation wiederum kann durch materielle Interessen erzeugt werden. Das wiederum erhöht jedoch die Durchsetzungskosten. Ein anderer Weg ist die Abgabe von Kompetenzen an die Basis. Allerdings erhöht dies die Kosten der Kommunikation, um das gewünschte Ergebnis zu koordinieren. Ein Problem hierbei ist, dass bei der Bottom-Up-Methode strukturelle Probleme nur vom Großen ins Kleine verlagert werden können. Wo im Großen die Korruption abnimmt, kann sie im Kleinen zunehmen und am Ende zu den gleichen gesellschaftlichen Kosten führen.

Bürgerlich-demokratische Systeme erreichen Partizipation beispielsweise durch Wahlen. Durch Wahlen kann bestimmt werden, welche Kommunikationsform eine effektive ist. Parteien mit veralteter Kommunikation werden nicht wiedergewählt. Das System krankt jedoch an darüber hinausreichender Partizipation. Bürgerliche Regierungen sind von einer funktionierenden Kapitalakkumulation abhängig und haben daher einen sehr begrenzten Entscheidungsrahmen. Am Arbeitsplatz selbst partizipieren Proletarier*innen nur zu dem Zweck, die Arbeitsintensität zu erhöhen, also aus intrinsischer Motivation gegen die eigenen Interessen zu handeln. Das führt zu zunehmender Politikverdrossenheit und weitgehender Wahlverweigerung. Dass immer größere Teile der Bevölkerung sich nicht mehr von der herrschenden Regierung und auch nicht vom oppositionellen Angebot vertreten fühlen, ist in ganz Europa evident.

Doch auch die Kommunistische Partei Chinas sieht sich zunehmend vor das Problem gestellt, die Partizipation der Basis zu erreichen. Durch die Privatisierung großer Teile der Ökonomie wurden erstens die Partizipationsmöglichkeiten der Arbeiter*innenklasse beschnitten und zweitens neue Imperative geschaffen, die den politischen Handlungsrahmen einschränkten. In China spiegelt sich das Problem wider, dass man mit Marx als den Einfluss der Produktionsverhältnisse auf das Klassenbewusstsein bezeichnen könnte. Die Kommunistische Partei muss zunehmend finanzielle Anreize schaffen, um Projekte durchzusetzen; selbst dann, wenn sie zum Vorteil der Arbeiter*innenklasse gereichen. Damit steigen auch die Kosten und die Anreize zur Korruption, da Ziele nicht mehr intrinsisch verfolgt werden. Insbesondere der neomaoistische Flügel innerhalb der KPC mahnt daher zur Deprivatisierung und zur Berücksichtigung der gesellschaftlichen Kosten der Marktöffnung.

Die Volkskommunen

Im kollektiven Gedächtnis des Westens haben die chinesischen Volkskommunen als überdimensioniertes soziales Experiment während des gescheiterten Großen Sprungs nach vorn überlebt. Die meiste Zeit ihrer Existenz zwischen 1955 und 1978 waren sie hingegen weitestgehend rational eingerichtete Verwaltungseinheiten auf dem Land, welche der Distribution innerhalb der Dörfer und zwischen Dorf und Stadt dienten. Sie sollten als Mittel der Kollektivierung und großflächigen Maschinisierung der Landwirtschaft und damit den Ertragssteigerungen dienen. Der Grad des unmittelbaren Zwangs zur Kollektivierung, die konkrete Durchsetzung der kollektiven Strukturen und der Erfolg der Kommunen unterschieden sich je nach Region sehr stark. Basiselement des sozialistischen Aufbaus auf dem Land war die Begrenzung der Migrationsmöglichkeiten, um einen Anreiz zur Entwicklung des eigenen Dorfes bzw. der eigenen Kommune zu geben.

Eine Volkskommune umfasste dabei meist mehrere Dörfer. Tempel oder repräsentative Gebäude reicher Bauern wurde kollektiv als Gemeinschaftsküchen, Schulen oder Schlafsäle genutzt. Ihre Leitung stand in der Regel im politischen Austausch mit der Verwaltung der Regionen. Nach innen war die Volkskommune in Brigaden und Produktionsteams organisiert. Die Brigaden verwalteten in der Regel die Produktionsmittel und die Produktionsteams waren verantwortlich für die konkrete Umsetzung bestimmter Produktionsziele, für Bilanzierung und für die direkte Partizipation der einzelnen Bäuer*innen. Aus ihren Erzeugnissen wurden auch die monetären oder Naturalsteuern beglichen. In der Regel gab es einen Normalarbeitstag, an dem Reis, Baumwolle oder Weizen angebaut, sowie Tierzucht betrieben wurde. Darüber hinaus konnten die Bäuer*innen entscheiden, ob sie in der verbleibenden freien Zeit lieber eigene Hauswirtschaft betrieben oder spezielle weitere Arbeiten übernahmen. Verrechnet wurde die Teilnahme an der Produktion über Arbeitspunkte. Diese fassten Dauer, Intensität und Qualität der Arbeit zusammen und bestimmten, über welchen Anteil am Mehrprodukt der Kommune, welches nicht an den Staat abgeführt wurde, ein*e Landarbeiter*in verfügen konnte. Es stand also weitestgehend frei, ob man lieber Arbeitspunkte erarbeitete und größeren Anteil am Gemeinschaftsprodukt hatte oder lieber selbstständig produzierte.

Die Verteilung der Arbeitspunkte sollte dabei am Ende des Arbeitstages diskursiv erfolgen und wurde von einem Buchhalter, meist der Leiter des Produktionsteams festgehalten. In der Praxis erwies sich eine genaue Differenzierung der Tätigkeiten jedoch als äußerst schwierig, weshalb die Punkte häufig weitestgehend standardisiert vergeben wurden. Die Vergabe von vielen Punkten auf kompliziere Arbeit sollte dabei als Ansporn zur Qualifikation der Landarbeiter*innen dienen.

Die Alphabetisierungskampagne

Für eine moderne Landwirtschaft war ein hoher Mechanisierungsgrad, eine komplexere Organisationsstruktur und verbindliche Abläufe entscheidend. All dies setzte als Grundlage zumindest praktikable Lesekenntnisse voraus. Der Alphabetisierungsgrad lag zur Zeit der Gründung der Volksrepublik jedoch gerade einmal bei 20%, auf dem Land weit darunter. Kampagnen der Vergangenheit, sowohl durch bürgerliche als auch kommunistische Kräfte, erwiesen sich als ressourcenfressend und wenig effektiv. Natürlich erhoffte man sich eine bessere Kommunikation der Propaganda, wenn man Drucksachen in die Dörfer tragen konnte, ohne öffentlich vorlesen zu müssen. Das Problem beschrieb jedoch ein Bauer sehr eindrücklich:

„Beim Pflanzenanbau dreht sich alles um Pflügen und Hacken. Ich bin so erschöpft, dass mein Rückgrat zu brechen droht und ich komme kaum über die Runden. Wie sollte ich die Zeit finden, Lesen und Schreiben zu lernen? Ich kassiere weder Miete noch leihe ich zu hohen Zinssätzen und meine Familie hat seit Generationen nie andere ausgebeutet. Was nützen mir also Lese- und Schreibkenntnisse und Buchhaltung?“

übersetzt nach Zhang 2018, S.8

Erschwerend kommt hinzu, dass die chinesischen Sprachen aus einem komplizierten Zeichensystem bestehen, das schwer zu lernen ist. Allein, um eine einfache Zeitung zu lesen, bedarf es der Kenntnis von etwa tausend Zeichen. Je später mit der Alphabetisierung begonnen wird, um so schwerer ist die Sprache zu erlernen. Die Volkskommunen sind nun jedoch ein sehr konkretes Beispiel, wie das Sein das Bewusstsein verändert.

Die Alphabetisierung in den Volkskommunen

Denn, wie Zhang am Beispiel Gaojialiugous zeigt, ein Dorf mit ca. 840 Einwohner*innen in 250 Haushalten, änderte sich die Motivationslage radikal mit der Bildung der Volkskommunen. Der Grund für den Stimmungswandel ist einleuchtend. Der Buchhalter hielt die Arbeit der Kommunemitglieder schriftlich fest. Diese Bilanzen konnten jedoch nur durch die Landarbeiter*innen kontrolliert werden, wenn sie diese auch lesen konnten. Und an der korrekten Auflistung der Arbeitspunkte hing der ganz materielle Zugriff auf die Erzeugnisse der kollektiven Arbeit. Die Bäuer*innen waren plötzlich willig, das Lesen zu lernen und zwar praktisch ausgerichtet auf das Verständnis der Arbeitspunkte. Hierzu wurden nicht alle 1000 Zeichen benötigt und die Dorflehrer entwickelten ein „Leselehrbuch zur Arbeitspunkte-Aufzeichnung“. In 23 Lerneinheiten wurde zunächst der Name der Kommune, der Getreidearten, der Werkzeuge und der Arbeitsschritte beigebracht. Dann folgten Zahlen und Maßeinheiten und die Namen der Kommunemitglieder und wichtiger Orte in den Dörfern. Das Buch kam dabei mit nur 243 Zeichen aus. Nach nur zwei-einhalb Monaten Unterricht neben der Arbeit wurden 25 Leute als Buchhalter*innen qualifiziert und 92 andere konnten selbst ihre Arbeitspunkte aufschreiben. Partizipation an der Distribution führte also über die Alphabetisierung zu einem noch höheren Grad an Partizipation. Auch Frauen beteiligten sich rege am Unterricht. Es wurden spezielle Frauenklassen gebildet, zu denen auch die Kinder mitkommen konnten oder sie erhielten Heimunterricht.

Dennoch war die Bevölkerung zunächst nur in einer sehr abgespeckten Form alphabetisiert. Ein zweiter Schub erfolgte mit der zunehmenden Technisierung Mitte der 60er Jahre. Neue chemische Dünger, Maschinen, Bewässerungssysteme und modifiziertes Saatgut erforderten vermehrtes Wissen. Komplizierte Arbeit wurde mit mehr Arbeitspunkten vergolten und so lernten insbesondere viele junge Menschen in Aufbaukursen auch die Namen der neuen Produktionsmittel und die Kompetenzen, ihre Anleitungen zu verstehen. Dabei setzen die bereits die Namen der neuen Technologien, die einer hochvergesellschafteten Produktion entstammen, die Kenntnis der Grundlagen voraus, aus denen die Zeichen dann aufgebaut sind. Ganze 346 Kommunemitglieder durchliefen auch dieses erweiterte Programm. So wird klar, wie in China trotz der komplizierten Schrift die Alphabetisierungsrate innerhalb von zwei Jahrzehnten von 20% auf knapp 60% gesteigert werden konnte.

Aber allein bei der Bildung hört die Sache nicht auf. Da Bildung einen realen Gebrauchswert für die Dorfbevölkerung darstellte, wurden die Fragen der Organisation der Bildung zu Fragen der Menschen selbst. Die Enteignung und Zweckentfremdung von Tempeln oder Häusern der Feudalherren wurde nicht mehr als Sakrileg gegen die traditionelle Ordnung angesehen, sondern in ihrer neuen Funktion geschätzt. Als die vorhandenen Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten, baute die Dorfbevölkerung eine neue Schule. Viele Kommunemitglieder wollten Lehrer werden und studierten dazu überregional. Das wiederum erhöhte die Kohäsionskraft der gesamtchinesischen Bevölkerung. Die Bewegung der Dialektik zwischen materiellen Grundlagen und Bewusstseinsveränderung wird an diesem Fallbeispiel spürbar.

Zusammenfassung

Bei aller kultureller und politischer Verschiedenheit steht die deutsche Regierung vor dem selben Problem, wie die chinesische. Die Ambition, sich aus Eigenantrieb den gesellschaftlichen Aufgaben anzunehmen sinkt beständig durch die zunehmende Entfremdung von den Mitteln der Produktion. In Deutschland äußert sich das an sinkenden Wahlbeteiligungen und sinkendem ehrenamtlichen Engagement, in China an zunehmender Korruption und Ineffektivität politischer Kampagnen.

Es wäre sicherlich falsch, die Kommunen zum herausragenden Erfolgsprojekt zu verklären, aber Zhangs Studie zur Alphabetisierung zeigt an einem konkreten Beispiel, was das hohe Wort von Karl Marx, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, in der konkreten Praxis bedeutet. In der Evaluation der Zulassung der Privatwirtschaft müssen in der VR China daher auch die Folgekosten für die erschwerte Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen im Land berücksichtigt werden. Mit solch einer materiellen Analyse haben die Neomaoisten in China ein gewichtiges Pfand, den ökonomischen Kurs der letzten drei Jahrzehnte begründet in Frage zu stellen.

Literatur:

Yinhao Zhang (2023): The impact of agricultural collectivization on participatory communication: a case study of the Maoist literacy movement. In: Chinese Journal of Communication. Online First. DOI: 10.1080/17544750.2023.2249138

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