Die Börse rüstet auf: Über Militarisierung und Finanzmarktkapitalismus

⋄ Eine marxistische Theorie besagt, dass die fallende Profitrate nicht nur zur Flucht des Kapitals in den Finanzsektor führt, sondern in zweiter Linie auch zu steigender Rüstung.

⋄ Die türkischen Ökonomen Pelin Akçagün-Narin und Adem Yavuz Elveren haben versucht, diese These empirisch zu prüfen.

⋄ Dabei diskutierten sie die Aussagekraft verschiedener Definitionen der Profitrate, von Finanzialisierung und Rüstungsausgaben.

⋄ Sie zeigten auf, dass der Anteil der Rüstungsausgaben am BIP automatisch sinkt, wenn der Finanzmarkt wächst, ohne das real weniger in die Rüstung investiert worden wäre.

⋄ Desweiteren bietet die Studie einen tiefen Einblick in die Probleme bei der empirischen Validierung marxistischer Theoreme.

Der Ausspruch des französischen Pazifisten Jean Jaures, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trage, wie die Wolke den Regen, scheint heute so aktuell, wie vor 110 Jahren. Das Kapital kennt in seinem Wachstumsdrang keine Grenzen, auch keine nationalen. Wohin erst einmal das Kapital expandiert ist, da folgen auch die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie und zum Schluss die Panzer. Viele Linke vertreten dabei die Theorie, dass der Rüstungssektor eine Art Motor des Kapitalismus ist, der angeworfen werden kann, wenn der Rest der Industrie keine hinreichenden Profite mehr abwirft.

Die beiden türkischen Ökonomen Pelin Akçagün-Narin und Adem Yavuz Elveren haben sich diesen Zusammenhang empirisch genauer angeschaut. Lässt sich ein statistisch belastbarer Zusammenhang zwischen fallender Profitrate, einem wachsenden Finanzsektor und steigenden Rüstungsausgaben aufzeigen.

Die marxistische Theorie von Profitrate, Finanzmärkten und Rüstung

Die untersuchte Argumentation ist auf den ersten Blick sehr einleuchtend. Fällt die Profitrate, weil immer weniger lebendige, wertbildende Arbeit pro Produktionsmittel und Ware aufgewandt werden muss, dann muss sich die Bourgeoisie nach neuen Quellen des Profits umsehen. Ist Kapital nicht mehr profitträchtig in der produktiven Industrie anzulegen, dann flüchtet es in den unproduktiven Sektor und vorrangig in die Finanzmärkte. Dort fungiert das Geld vor allen Dingen als Versprechen auf zukünftige produktive Profite. Da das Ausbleiben dieser jedoch gerade das Ausgangsproblem war, muss künstlich eine Nachfrage nach Industrieprodukten geschaffen werden. Ein solcher dem Wesen nach staatlich geschaffener und kontrollierter Sektor ist der militärische Komplex. Nicht nur besitzt der Staat das Gewaltmonopol und ist meist als einziger berechtigt, die Produktion schwerer Waffen in Auftrag zu geben. Das Militär ist auch wichtigste Mittel, um ausländische Märkte zu öffnen. Sei es durch die Absicherung von Transportwegen, sei es durch Schutzversprechen der Souveränität anderer Staaten, die im Gegenzug ihre Märkte für das imperialistische Kapital öffnen oder sei es sogar durch die direkte militärische Intervention zur gewaltsamen Öffnung der Märkte, wie im Irak 2002.

Insbesondere die USA waren jahrzehntelang darauf angewiesen, die Hegemonie des Dollars auch entsprechend materiell zu unterfüttern. Die USA konnten hingegen Dollars drucken, um damit die Rüstung zu finanzieren. Das Militär wiederum sicherte auch nach dem Wegfall der Goldbindung des Dollars die allgemeine Akzeptanz als Zahlungsmittel ab, wodurch die inflationären Effekte der Geldmengenausweitung für die USA kaum spürbar waren, da sie auf die gesamte Welt verteilt werden konnten (Näheres hier). Somit ergibt sich eine Wechselwirkung zwischen Finanzierung der Rüstung und Ausweitung der Finanzmarktprodukte wie Schuldtitel. Kleine Bemerkung hier am Rande: Auf Grund der unterschiedlichen Funktionsweisen des Dollars für die USA und des Euros für Deutschland ist der Vergleich zwischen der schuldenfinanzierten Rüstung der Vereinigten Staaten und der europäischen Länder nicht statthaft.

Soweit klingt das Ganze plausibel. Aber nur weil die Theorie, dass die fallende Profiterate zu einem steigenden Finanzsektor führt, dessen angehäuftes Kapital am Ende in die Rüstung investiert wird, logisch klingt, muss sie nicht stimmen. Pelin Akçagün-Narin and Adem Yavuz Elveren haben diese Theorie für die Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1949 und 2019 nun auch empirisch getestet.

Die Mühen der empirischen Ebene

Und sie haben – um das Ergebnis mal vorwegzunehmen – festgestellt: es kommt drauf an. Es kommt zum Beispiel darauf an, was man überhaupt unter Finanzialisierung oder Finanzmarktkapitalismus versteht. Man kann zum Beispiel sehr eng argumentieren und nur den Anteil des fiktiven Kapitals gegenüber dem Warenkapital berücksichtigen. Man kann aber auch etwas weiter blicken und zusätzlich die politische Dominanz des Finanzkapitals in die Betrachtung mit einnehmen, wodurch die Stärkung der Finanzmärkte, der Abbau von Handelshemmnissen und der Staatsquote, von Finanzassets etc. zum Ziel der Politik anstatt der Förderung des produktiven Kapitals werden. Manche Marxist*innen sehen in der Finanzmarktlogik sogar eine von der kapitalistischen Ausbeutung unabhängige eigenständige Form der Ausbeutung und gehen deshalb von einer ganzen Epoche der Finanzialisierung seit dem Ende der Sowjetunion aus, dessen quantitative Zusammensetzung eher nebensächlich ist. Eine solche weitergehende Definition ist also schwer operationalisierbar. In der detaillierten Untersuchung ist zudem zu unterscheiden, welche Arten des Kapitals überhaupt als Finanztitel und welche als produktives Kapital zu zählen sind, da schon Lenin für den Imperialismus eine Verschmelzung von produktivem Monopol- und Bankenkapital voraussah.

Die zweite Frage ist die, wie sich eigentlich Militarisierung messen lässt. Eine schlichte Erhöhung der Militärausgaben ist nur ein erster Anhaltspunkt. Alternativ könnte auch der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt gemessen werden, wie es in der aktuellen Diskussion die größte Rolle spielt. Beide Werte machen aber noch keine Angaben darüber, wie eigentlich das Geld aufgewandt wird. Fließen die Gelder zum Beispiel nur in mehr Personal, erhöht dies natürlich die reale Kaufkraft und kann so der Überakkumulation entgegenwirken, aber nur durch den Kauf bei der Rüstungsindustrie würden auch industrielle Profite generiert. Darüber hinaus ist strittig, ob die Monopolkonzerne auf die frei konkurrierenden Industriezweige überhaupt eine Pull-Wirkung besitzen.

Und zuletzt stellt sich die Frage, wie überhaupt die Profitrate zu messen sei. Der wesentliche Dissenz ist hierbei, ob das fiktive Kapital bei der Berechnung der Durchschnittsprofite zu berücksichtigen sei oder nicht. Dagegen spricht, dass in der Marxschen Konzeption des Dritten Kapital-Bandes nur produktives Kapital berücksichtigt wird und seine Folgerungen sich auf realisierte Mehrwerte beziehen, die überhaupt die Größen Profitrate, technische Zusammensetzung und Ausbeutungsrate in ein logisches Verhältnis setzen. Dafür spricht, dass die Profite des Finanzsektors die gleiche Rolle für den Ausgleich der Profitraten spielen, wie die industriellen Profite. Wenn der Finanzmarkt höhere Profite verspricht, zieht er das Kapital an, hebt die Durchschnittsprofitrate und zwingt industrielle Unternehmen, diese ebenfalls anzustreben oder perspektivisch unterzugehen. Und da sind Fragen, wie die Berücksichtigung der Umschlagszeit (Näheres hier) noch garnicht mit berücksichtigt.

Rüstung und Finanzialisierung

Akçagün-Narin und Elveren haben sich in Anbetracht dieser Problemlage dafür entschieden, einfach alles einmal durchzutesten. Als Finanzialisierung haben sie einmal das Verhältnis der Finanzprofite zu den Industrieprofite, einmal das Verhältnis der Nettozinsen zum Bruttoinalndsprodukt und einmal das der Dividenden zum Bruttoinlandsprodukt untersucht. Für die Militarisierung haben sie sich sowohl den Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt als auch die absolute preisbereinigte Ausgabenhöhe angeschaut. Die Profitrate haben sie einmal nach Bakir and Campbell berechnet, welche die Finanzprofite als Teil des Gesamtprofits auffassen, der nach der Realisation einfach unter den Kapitalisten aufgeteilt wird. Und sie haben diese einmal nach Alan Freeman berechnet, der die Zinsen als Ausgaben des produktiven Kapitals betrachtet und damit nicht als Profit zählt.

Die Ergebnisse waren dabei so vielfältig wie die angesetzten Definitionen. Die Untersuchung des Anteils der Rüstungsausgaben in Abhängigkeit des Grads an Finanzialisierung ergab keine belastbare Aussage, unter bestimmten Konfigurationen waren beide Größen sogar negativ korreliert. Und genau hier zeigt sich die Tücke der Untersuchung. Die Ausgangsthese argumentierte ja, dass die Rüstung als gesteuerter Rücktransfer fiktiven Kapitals in den produktiven Sektor zu betrachten wäre. Das bedeutet aber auch, dass ein Erfolg dieser Strategie sich in den Daten derart niederschlagen würde, dass der produktive Sektor verhältnismäßig wieder ansteigt und dadurch ein Einbruch des Finanzialisierungsgrades beobachtbar wäre. Allerdings müsste dann genauer erklärt werden, wie dieser Effekt denn überhaupt von einem Nulleffekt zu trennen wäre.

Die Pointe der ganzen Sache

Die Lösung dieses Problems könnte sein, argumentativ einen Schritt zurückzugehen und die Wirkung (Militarisierung) mit der Ursache (Fall der Profitrate) stärker zu verknüpfen. Allerdings zeigt nur ein Teil der fünf verschiedenen betrachteten Berechnungsarten der Profitrate eine Korrelation mit dem Anteil der Rüstungsausgaben und dass auch nur auf einem Signifikanzniveau von 10%. Was ist das Problem? Zeitlich liegen der Fall der Profitrate und die Militarisierung in der überprüften Argumentation recht weit auseinander, da ja zunächst das Kapital in die Finanzmärkte wandert. Wie lange das Kapital sich auf Grund von Spekulation, der Erfindung immer neuer Finanzprodukte und Externalisierung der ökonomischen Kosten dort aufhält, hängt von vielen Umständen ab, sodass die Kausalität Fall der Profitrate – Anstieg der Militärausgaben zu kurz greift.

Allerdings zeigte sich eine positive, univariante, robuste und zeitlich-kausal schlüssige Korrelation zwischen der reinen Profitrate der Finanzprodukte und den Militärausgaben. Um das zu erklären, muss man die Logik der Bourgeoisie nochmals wie eine Ziehharmonika auseinanderziehen. Während der Phase der Finanzialisierung sinkt die allgemeine Profitrate, während die produktive Profitrate stark fällt, die Finanzprofitrate aber sogar gegentendenziell ansteigen kann und dies auch empirisch tut. Damit schrumpft der produktive Sektor – zu dem auch die Rüstungsindustrie gehört, im Vergleich zum fiktiven Kapital –, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Rüstungsausgaben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt, dass produktive und fiktive Assets aufsummiert, sinken. Im Verhältnis zur Realökonomie kann in dem selben Prozess der Anteil der Rüstungsindustrie daher gestiegen sein, während sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt gesunken ist. Die Flucht des Kapitals in den fiktiven Sektor überdeckt sozusagen den Anstieg der Rüstungsproduktion im Verhältnis zur Gesamtproduktion. Dieser Schein klärt sich aber auf, sobald man nur die Finanzprofitrate und nur die absoluten Rüstungsausgaben untersucht.

Weil das Argument wichtig, bisher wenig beachtet ist, aber doch äußerst relevant ist, ein fiktives Zahlenbeispiel zum Verständnis. Angenommen eine Ökonomie habe ein Bruttoinlandsprodukt von 2 Billionen Euro, wovon 1 Billion auf den produktiven und 1 Billion auf den Finanzsektor entfallen. Müssten die Rüstungsausgaben 2% des BIP betragen, dann beliefen sich die Ausgaben auf 40 Mrd. Euro. Schon jetzt würde der Anteil am produktiven Sektor damit bereits bei 4% liegen. Nehmen wir nun aber an, auf Grund einer gedeckten Nachfrage reproduziere sich das produktive Kapital nur noch einfach, während die Gewinne alle in den Finanzsektor fließen. Das könnte zur Folge haben, dass in 20 Jahren das BIP um das Doppelte gewachsen ist, wobei der produktive Sektor weiterhin 1 Billion Euro erwirtschafte und der Finanzsektor nunmehr 3 Billionen. 2% des neuen Bruttoinlandsproduktes ergäben nun 80 Mrd. Euro für die Rüstung. Allerdings bauen nicht Banken oder Hedgefonds Panzer und Haubitzen, sondern nur die Industrie des produktiven Sektors. Die Realökonomie würde damit bereits 8% auf Rüstung aufwenden. In der produzierenden Industrie wäre also eine Verdoppelung der Rüstungsproduktion aufgetreten, obwohl die gesamte Warenproduktion sich nicht ausgedehnt hat und offiziell immer noch nur 2% des BIP als Rüstungsausgaben ausgewiesen sind. So hat die Finanzialisierung einen verschleiernden Effekt für die Rüstung, der reales Ausmaß durch die Orientierung am BIP unterschätzt wird. Das Zahlenbeispiel ist hier natürlich extrem gewählt, macht aber das Prinzip deutlich. Um die Rüstung real konstant zu halten, müsste der Anteil der Rüstungsausgaben eigentlich reziprok zum Anteil an des Finanzsektors an einer Volkswirtschaft sinken.

Dieses Phänomen erklärt, warum die beiden Forscher in früheren Studien auch eine negative Korrelation zwischen Finanzialisierung und dem Anteil der Rüstung am BIP festgestellt haben. Bleibt die reale Rüstung konstant oder erhöht sich nicht genauso schnell, wie der Anteil des Finanzmarktes am BIP, dann sinkt der Anteil der Rüstung am BIP, obwohl ihre absolute Höhe oder selbst ihr Anteil am produktiven Sektor real steigen.

Zusammenfassung:

Die Studie von Pelin Akçagün-Narin and Adem Yavuz Elveren legt zwei extrem spannende Punkte frei. Erstens führt die Studie großartig in die Komplexität der empirischen Untersuchung marxistischer Theorien ein. Es ist gar nicht so leicht, den ökonomischen Daten ihre kausalen Zusammenhänge zu entlocken. Denn Kausalität trennt Ursache und Wirkung durch die Zeit und es kommt auf eine sehr genaue Auswahl der untersuchten Größen an, um sich nicht im stochastischen Rauschen zu verlieren.

In der Sprache der Autoren lautet das Ergebnis:

„While there were no causal relationships between military expenditure/ GDP and the net interests/GDP or net dividends/GDP ratios, there was bivariate causality between the ratio of military expenditure to GDP and the ratio of financial profits to nonfinancial profits. The model estimations suggest a dialectical relation in which the rise in the degree of financialization is intertwined with a relative decline of military expenditure as a ratio of GDP.“

S.95

Und das führt zum anderen spannenden Punkt, der bisher kaum beachtet wurde, aber nach kurzem Nachdenken völlig plausibel ist. Wenn in den letzten Jahren der Anteil der Finanzleistung am Bruttoinlandsprodukt massiv angestiegen ist, dann bildet der Anteil der Rüstungsausgaben am BIP heute etwas ganz anderes ab als vor 20 oder 30 Jahren. Eine Regel, wie das 2%-Ziel der NATO, hält bei einem Wachstum des Finanzsektors – und den haben wir seit vielen Jahren – die Rüstungsausgaben nicht etwa konstant, sondern erhöht sie real (und das nicht nur preisbereinigt). Daher stimmt die Behauptung, Deutschland habe in den letzten Jahrzehnten abgerüstet, nur weil der Anteil der Rüstungsausgaben am BIP gesunken ist, empirisch überhaupt nicht. Die Friedensbewegung darf solchen statistischen Verfälschungen nicht auf den Leim gehen, sondern muss sie konsequent aufdecken. Dazu leistet die vorliegende Studie einen hervorragenden Beitrag.

Literatur:

Akçagün-Narin, P. & Elveren, A. (2024): Financialization and Militarization: An Empirical Investigation. In: Review of Radical Political Economics. Jahrgang 56. Ausgabe 1. S.70–100.

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