Marx für Muggel

⋄ Der Umgang marxistischer Wissenschaftler*innen mit bürgerlichen Theorien ist umstritten.

⋄ Tiago Camarinha Lopes veröffentlichte in der
World Review of Politcal Economy eine Polemik zu dieser Frage.

⋄ Er spricht sich für eine Integration bürgerlicher Konzepte in das marxistische System aus. Marxist*innen sollten ihre Wohlfühlzone verlassen.

⋄ Als positive Beispiele führt Lopes Piero Draffa und Oskar Lange an.

⋄ Für seine Argumentation verwendet er die Metapher der Muggel und Reinblüter aus Harry Potter.

Es ist die Gretchenfrage der marxistischen Wissenschaft: Wie hältst du es eigentlich mit den Bürgerlichen? Es gibt unter ihnen viele kluge Köpfe. Leute, die so schlau sind, wie Marx es war oder schlauer. Leute, die konsistente Theorien entwickeln; Leute, die eine gute Beschreibung der Wirklichkeit abliefern. Und doch haben diese Leute manchmal kein Problem mit den offensichtlichsten Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft. Sie verstehen nicht, warum der Tauschwert für Marxist*innen etwas Besonderes ist; warum es merkwürdig ist, einen Stuhl und eine Yoga-Stunde in einem Preis gleichzusetzen und nicht einfach anzunehmen, dass dies in der Natur der Sache liege. Wie kann ihnen das begreiflich gemacht werden?

Tiago Camarinha Lopes erörtert in einem kleinen Essay in der World Review of Political Economy seine Haltung zum Umgang marxistischer Ökonom*innen mit ihren bürgerlichen Widersachern. Lopes ist Professor für politische Ökonomie an der Universidade Federal de Goiás in Brasilien und publiziert lesenswerte Arbeiten zu Fragen des Transformationsproblems und der Input-Output-Analyse. Dabei spezialisiert er sich auf das Erbe von Marx, Leontieff, Sraffa und Oskar Lange.

Die richtige Frage stellen

Tiago Lopes hält die Diskussion um das Transformationsproblem im klassischen Sinne für beendet. Das Transformationsproblem ist die Frage, wie man Arbeitswerte in Preise umrechnen kann und umgekehrt. Vielmehr müsse es – hier zitiert er Laibman (2021) – darum gehen, was denn die Dimension des Werts eigentlich tue. Warum sollten marxistische Ökonomen überhaupt Wert auf den Wert legen, wenn doch alle Welt Waren in Preisen misst und nach diesen ihre Praxis ausrichtet? Was bringt dies Ökonom*innen, welche ihre Arbeit in den Dienst des Kommunismus stellen? Tatsächlich gäbe es marxistische Ökonom*innen, welche die Arbeitswertlehre nicht weiter verfolgten, nicht weil sie falsch oder inkonsistent sei, sondern weil sie als irrelevant und redundant empfunden würde. Man mache sich durch diese zusätzliche Bedingung angreifbar. Grenznutzentheoretiker*innen bräuchten ihren Standpunkt nicht mühsam verteidigen, sondern könnten immer gleich zur Sache kommen. Warum sollten also die Kommunist*innen es verkomplizieren?

Lopes möchte nicht mit einer Antwort glänzen. Es gäbe viele darauf. Jede Antwort resultiere aus der konkreten Situation. Marxist*innen und Nichtmarxist*innen würden sich in ökonomischen Fragen gegenüberstehen. Sowohl marxistisches Wertsystem und bürgerliches Preissystem seien beide analytisch aussagekräftig und empirisch bestätigbar. Die Spannung zwischen der Analyse des Kapitalismus in Preisen und den dadurch resultierenden Widersprüchen mit der Realität würde die Debatte dialektisch auf höherer Stufenleiter reproduzieren. „Accumulation of contradictions at higher levels is the way to go.“ (S.446)

Muggel und Reinblüter

Allerdings gäbe es für solche eine dialektische Zuspitzung der Widersprüche eine Voraussetzung. Man müsse den Kampf zum Teil auf dem Felde der bürgerlichen Ökonomie führen. Man müsse sichere Fahrwasser des reinen Marxismus verlassen. Marxist*innen müssten in eine Beziehung zur bürgerlichen Wissenschaft kommen und könnten nicht in einem abgeschotteten Paralleluniversum existieren. Hierzu wählt Lopes die Metapher der Reinblüter und Muggel aus den Harry Potter Büchern. Reinblüter sind die Zauberer und Hexen per Abstammung; Muggel die Menschen ohne magische Fähigkeiten. Normalerweise existieren beide in parallelen Welten. Diese Koexistenz kann jedoch durch besondere Ereignisse gestört werden.

Reinblüter gingen davon aus, dass sich Widersprüche zwischen Wert- und Preisform durch ein vertieftes Studium der Werke von Karl Marx beseitigen ließen. Frisches Blut könne immer nur einen festgelegten Katechismus – Stand Ende 19. Jahrhundert – neu auslegen. Man werde selbstreferentiell. Diesem etwas überzeichneten Bild hält Lopes den Muggel-Marxismus entgegen, der sich durch eine „kontinuierliche Fortentwicklung entlang der Grenzlinie zwischen Marxismus und bürgerlicher Ökonomie“ (freie Übersetzung, S.447)“ auszeichne. Dies beinhalte, dass die Theorie auch Aspekte aufnehme, welche der nichtmarxistischen Wissenschaft entstammten. Man könne hier gerade von Marx lernen, wie man die Forschung des Klassengegners nutzen und integrieren könne, damit das eigene System wachse und stabiler werde.

Nach Lopes bilde das Transformationsproblem und dessen historische Zyklen den realen Klassenkampf in der Ökonomie ab. Die Arbeitswertlehre gewinne an Boden, wenn auch die Macht der Arbeiter*innen wächst. Die bürgerliche Preislehre erhebt jedes Mal ihr Haupt, wenn die Bourgeoisie ideologische und materielle Geländegewinne erziele. Damit ist eine einmalige „Lösung“ des Transformationsproblems Illusion. Oder kurz: die marxistischen Intellektuellen können nicht siegen, bevor das Proletariat gesiegt hat. Sie haben erst Recht, wenn die durch Arbeiter*innen veränderte Realität ihnen Recht gibt.

Intelligentes Leben nach Marx: Lange und Sraffa

An zwei Beispielen versucht Lopes zuletzt zu illustrieren, wie nichtmarxistisches Wissen in den Marxismus integriert werden kann. Piero Sraffa habe 1960 durch seine Rückbesinnung auf Ricardo die objektive Wertlehre wieder auf die Tagesordnung gesetzt; in einer Zeit, als die Grenznutzentheorie zum ökonomischen Mainstream gehörte. Da sowohl Sraffa als auch Marx ihren Ricardo gut gelesen hätten, arbeitete Sraffa sehr analoge Argumente heraus, nur ohne den Namen Marx zu benutzen. Ihm gelang es auch, diese Argumente in das mathematische Gerüst des 20. Jahrhunderts zu kleiden. Der polnische Ökonom Oskar Lange wiederum versuchte, keynesianische Elemente in einer Wirtschaftsplanung mit zu berücksichtigen und arbeitete die Unterschiede für Peripherien und Zentren heraus. Seine Beiträge zur sozialistischen Planungstheorie hätten zumindest zeitweise die zutiefst liberale Wiener Schule aus der Mainstreamökonomie verbannt.

Beide Ökonomen würden sich dadurch auszeichnen, dass sie in wissenschaftlichen Debatten ihre Gegner nicht mit Marx widerlegt hätten, sondern in der Sprache ihrer Gegner materialistische Argumente einflochten. Dafür seien sie von den marxistischen „Reinblütern“ teilweise sehr stark angefeindet worden.

Zusammenfassung

Tiago Camarinha Lopes hat ein sprachbildlich anschauliches und argumentativ pointiertes Plädoyer für den wissenschaftlichen Kampf in den Gefilden des Klassenfeindes vorgelegt. Nicht mit Marxschen Zitaten und starren Begriffen, sondern mit Marxschen Argumenten müsse gefochten werden. Vorbild hierfür: Marx selbst. Abzuwägen bleibt sicher immer, wann dem Gegner zu stark nachgegeben wird. Aber diese Abwägung darf nicht durch den Grad der Abweichung vom Marxschen Kanon entschieden werden, sondern durch die Stichhaltigkeit der Argumentation.

Reizen wir zum Abschluss Lopes´ Metapher von den Muggeln und Reinblütern ein wenig aus. Die Welt der Zauberer und der Nichtzauberer ist in Harry Potter eigentlich strikt getrennt. Muggel können magische Orte nicht einmal sehen, während es Magiern verboten ist, vor Muggeln zu zaubern. Reinblüter werden in der Regel keine Muggel. Sie halten sich für elitär und haben keinen Bezug zur realen Welt der Menschen. Ihre Magie nutzt nur ihnen. Muggel hingegen werden nach dem Kontakt mit Magie sprichwörtlich in deren Bann gezogen. Nicht wenige werden selbst Magier und manchmal die besten und fleißigsten. Sie erliegen nicht nur dem Zauber an sich, sondern auch dem Zauber des Neuen, einer bisher unbekannten Welt. Und am Ende kann nur ein Halbblut (Harry, das Kind eines Muggels und eines Reinblüters) die Welt der Zauberer retten.

Dazu bedarf es aber die Schnittstellen zwischen der magischen und der profanen Welt, Kontakte die durch die Zauberer eigentlich verboten und für Muggel kaum vorstellbar sind, für beide also eine Grenzüberschreitung darstellen. Doch was ist zu gewinnen? Die Verzauberung der bürgerlichen Muggel und die Rettung der marxistischen Reinblüter.

Literatur:

Lopes, T. (2022): Pure-Blood and Muggle Marxian Approaches in the Theory of Value and Prize. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 12, Ausgabe 4. S.444-451. online frei abrufbar unter: https://www.scienceopen.com/hosted-document?doi=10.13169/worlrevipoliecon.12.4.0444.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert