Die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung Syriens und Libyens

⋄ Syrien und Libyen sind zwei Länder, deren Regime den Arabischen Frühling zwar überstanden haben, die im Westen aber massiv in der Kritik stehen.

⋄ Faruk Yalvaç & Hikmet Mengütürk untersuchten in der
Middle East Critique die beiden Länder unter analytischen Methodik der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung.

⋄ Die Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung führten sie dabei auf Konzepte Leo Trotzkis zurück.

⋄ Die Theorie erklärt die Hybridität von Entwicklungsmodellen durch die Ungleichzeitigkeit sozialer Formationen und ideologischer Systeme innerhalb eines Landes und zwischen einem Land und dem Weltmarkt.

⋄ In beiden Ländern stehe ein politisch pro-kapitalistischer und ökonomisch anti-imperialistischer Herrschaftsblock einem politisch anti-kapitalistischen, aber ökonomisch pro-imperialistischen Oppositionsblock gegenüber.
Gaddafi: der schwere Spagat zwischen Moderne und Tradition

Libyen und Syrien gelten den herrschenden Parteien als Beispiele für die schlimmen Folgen unentschlossenen Handelns der westlichen Wertegemeinschaft. Hätte man Assad und Gaddafi einfach kurz und schmerzlos weggebombt, kämen aus Syrien heute keine Geflüchteten und Libyen würde keine durchlassen. Russland hätte schon früh die Grenzen aufgezeigt bekommen und die Finger von der Ukraine gelassen. Die Länder hätten wohl die Finger von Chinas Neuer Seidenstraße gelassen und die westliche Öffentlichkeit sei wohl nicht ganz so kriegsmüde. Kurzum, die Welt wäre heute eine bessere … aus Sicht der herrschenden Klassen.

Aber was sind und waren das eigentlich für Regime, die so hart auf den Arabischen Frühling reagierten und sich trotz Intervention und Protest halten konnten. Faruk Yalvaç & Hikmet Mengütürk untersuchten in der Middle East Critique die beiden Länder unter analytischen Methodik der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung. Sie halten das Konzept nicht nur für das am besten geeignete für den Nahen Osten und Nordafrika, sondern führen es auch zurück auf Überlegungen Leo Trotzkis. Ein vielleicht gewagter Schritt.

Die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung

Das Konzept der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung (UCD) beruht bereits dem Namen nach auf drei theoretischen Reflexionsebenen: Ungleichzeitigkeit, Kombination und Entwicklung. Dabei ist der Entwicklungsbegriff nicht teleologisch zu verstehen. Es geht nicht um eine Entwicklung auf etwas hin – zum Beispiel zu einem bürgerlichen Nationalstaat oder einer aufgeklärten Gesellschat – sondern um die Entwicklung an sich. Gesellschaften haben historisch ja die Angewohnheit, lange Phasen von Stabilität zu durchlaufen und dann durch kurze Phasen der Entwicklung in eine andere Form überzugehen. Während der Phasen der Stabilität gibt es ein Setting an Machtstrukturen, ideologischen Formen und sozialen Reproduktionsmechanismen. Allerdings bilden sich bereits im Schoße dieser Settings Ungleichheiten heraus, welche dieses an einem Kipppunkt zu stören beginnen. Wir denken zum Beispiel an die rechtliche Ungleichheit selbst der wohlhabenden Bürger gegenüber dem Adel im 18. Jahrhundert, die zu den bürgerlichen Revolutionen führte. Diese Ungleichheit lässt sich auch als Ungleichzeitigkeit darstellen, weil im Schoße der alten Gesellschaft bereits die Veranlagung zur neuen entstanden ist.

Allerdings sind Gesellschaften keine abgeschlossenen Systeme, sondern interagieren aktiv wie passiv mit ihrer geographisch-politischen Umgebung. Ideen können von außen in die Gesellschaft eindringen und die Ungleichheit respektive Ungleichzeitigkeit überhaupt erst fühlbar machen. Die imperialistische Konkurrenz kann Gesellschaften Handlungsnormative aufzwingen, die bei Strafe des Untergangs auf die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen hinwirkt. Das bedeutet, dass die Entwicklung kombiniert ist. Wichtig dabei ist – im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Kritiker*innen – dass die externen Einflüsse nur die Auslöser für den Ausbruch der inneren Widersprüche sind und diese nicht vollständig selbst erzeugen. Ansichten, dass Länder, bevor eine westliche Lebensweise importiert worden wäre, homogene und harmonische Entitäten gewesen seien, blamiert sich. Kombination zielt darauf ab, innere und äußere Dynamiken gegenseitig in Relation zu setzen, wobei auf den Unterschied zwischen inneren und äußeren Gesellschaften geachtet werden muss. Eine Familienreform hat in einem Sozialstaat mit einem kommodifizierten Fürsorgesystem ganz andere Auswirkugen als in einer Gesellschaft, in die die Reproduktionsarbeit hauptsächlich in informellen Familienverbänden geleistet wird.

Durch diese Interaktion von Ungleichzeitigeit und Kombination entstünden hybride Gesellschaften, die nicht in den typischen Gesellschaftsmustern aufgingen, auch wenn sie Charakteristika einer oder mehrerer Muster trügen. Mit einer anderen sozio-ökonomischen und kulturell-historischen Basis übersetzen sich Modernisierungsprozesse ganz anders als im Westen und bringen auch andere Gegentendenzen hervor.

Trotzki als Vater der UCD?

Die Autoren behaupten nun, dass sich bereits vor der akademischen Systematisierung diese Gedanken auf Leo Trotzki zurückführen ließen. Trotzki habe anders als Lenin, der ein Bündnis zwischen Bauern und Arbeitern anstrebte, auf einen dezidiert proletarischen Charakter der Oktoberrevolution gesetzt. Wie konnte er das im zaristischen Russland fordern, wo doch die Arbeiter*innen eine Minderheit und die Bauernschaft die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft darstellten? Trotzki erhob die ungleichzeitige Entwicklung zum allgemeinsten Gesetz der Geschichte. Würde das Proletariat die Macht erobern, würde für die Bauernschaft eine neue externe Notwendigkeit entstehen, die sie zur Überwindung der traditionellen ökonomischen und sozialen Beziehungen dränge. Das Dorf wäre zwar immer noch ein Amalgam aus archaischen und zeitgenössischen Vorstellungen, aber die bäuerliche Rückständigkeit würde sich nicht ins Proletariat einpflanzen, das noch weiter als Trajektor der sozialistischen Entwicklung vorausgehe. Trotzki hatte hier sicherlich die Entwicklung der Bauern in den westlichen Zentren vor Augen, die sich in kurzer Zeit auf marktförmige Produktion umgestellt hatten. Dennoch zeigten die Entwicklungen nach der Oktoberrevolution, dass die Städte stärker von der Nahrungsmittelversorgung durch das Land abhängig waren als umgekehrt.

Ungleichzeitigkeit in Syrien und Libyen

Gemäß des dargestellten Dreischritts aus Ungleichzeitigkeit, Kombination und Entwicklung lässt sich nun die Geschichte Syriens und Libyens als dialektischer Prozess darstellen. Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit erzeugen verschiedene Standpunkte, Ideologien, soziale Kräfte und Ressourcen, die sich zu einem neuen Herrschaftssystem kombinieren und Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung werden.

Sowohl Syrien als auch Libyen standen seit dem 16. Jahrhundert unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. Die traditionellen und agrarisch geprägten Strukturen blieben zunächst lange Zeit erhalten und die Herrschaft der Osmanen wirkte sich fast nur durch Tributpflichtigkeit der herrschenden Schichten aus. Mit dem Aufkommen des Imperialismus, also der Unfähigkeit der westlichen Industrienationen die Akkumulation ohne Expansion von Kapital aufrecht zu erhalten, wurden diese traditionellen Gesellschaften jedoch in Frage gestellt. Überall an den Grenzen des Osmanischen Reiches entstanden westliche Kolonien und das Osmanische Reich musste sich selbst modernisieren, um gegen die zunehmende Einhegung bestehen und vielleicht sogar selbst expandieren zu können. Die traditionellen Gesellschaften stießen daher sowohl von Seiten des westlichen Einflusses als auch durch die osmanische Militärherrschaft auf einen Modernisierungszwang. Dieser verstärkte sich nochmals, nachdem Libyen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unter italienische und Syrien unter französische Herrschaft gekommen waren. Es entstanden den Kolonialmächte treue politische und intellektuelle Eliten, die sich im scharfen Kontrast zu den Lebensformen auf dem Land gesetzt sahen und im Wesentlichen von den ausländischen Militärmächten gestützt wurden.

Nach der Unabhängigkeit 1946 bzw. 1951 mussten diese Eliten jedoch ihr Herrschaft auf einen Konsens mit der gesamten Bevölkerung stützen. Die durchgesetzten bürgerlichen Nationalstaaten genossen zwar die schnelle Anerkennung der imperialen Bourgeoisien, schließlich boten sie mit Verfassungen und der Freiheit des Eigentums die zukünftigen Einfallstore für ausländisches Kapital. Der Staat war aber kein tief im popularen Mythos verankertes Konstrukt, sondern stand vielen gesellschaftlichen Sphären fremd gegenüber. Vertrauen konnten die neuen Staaten nur gewinnen, wenn sie materielle Anreize wie Bildung, Rechtssicherheit und soziale Absicherung schufen. Eine solche nur oberflächliche Verwurzelung bezeichnet man gemeinhin als Etatismus, deren Träger die am panarabischen Nationalismus und Sozialismus ausgerichteten Baath-Parteien wurden. Ohne hinreichend produktive Ökonomien sahen sich die Regierung für solch ein Programm gezwungen, ausländische Investitionen zu nationalisieren und auf dieser Grundlage eine importsubstituierende Industrie aufzubauen. Dies brachte diese Länder nun wieder in Opposition zu den imperialistischen Ländern und zwang sie, verhältnismäßig große Armeen zum Schutz der territorialen Integrität aufzubauen, was wiederum die Ressourcen zur Befriedung der Bevölkerung beschnitt.

Kombination

Als zweites stellt sich Frage, wie diese Widersprüche so in Kombination gebracht werden konnten, um ein halbwegs stabiles politisches und Akkumulationsregime zu schaffen. Ökonomisch wurden in Libyen und Syrien unterschiedliche Produktionsweisen miteinander kombiniert. In den Städten sollte zunehmend industriell produziert werden und zu diesem Zweck wurde eine entsprechende Infrastruktur wie Schulen und Universitäten errichtet. Dies wurde aber vordergründig autokratisch durchgesetzt, da die Bourgeoisie eigentlich größere Gewinne durch die Integration in den Weltmarkt statt der Autarkie erwartete. Auf dem Land wiederum wurde die staatliche Herrschaft nur recht lapidar ausgeübt, sodass sich hier Klassenbündnisse zwischen traditionellen Eliten, die mit dem Aufkommen der Moderne ihre ideologische Herrschaftsbasis in Gefahr geraten sahen, und der mit dem Staat unzufriedenen Bourgeoisie ausbildete. Ihre Fußsoldaten wurden jene überflüssigen Halbproletarier, die weder in der Landwirtschaft gebraucht wurden, von der ohnehin subventionierten Industrie aber auch nicht aufgenommen werden konnten. Der Witz an der Geschichte ist, dass ausgerechnet diese an islamistischer Ideologie orientierten Bündnisse auf eine Reintegration in den Weltmarkt drängten, während die bürgerlichen und säkularen urbanen Eliten aus guten Gründen auf staatliche Souveränität setzten. Wer zum Bündnispartner der USA und Europas werden sollte, ist leicht auszumalen.

Während des Goldenen Zeitalters des Staatskapitalismus in der arabischen Welt zwischen Mitte der 60er Jahre und Mitte der 70er Jahre hatten die Regierung jedoch offenbar den Erfolg auf ihrer Seite. Die Staatsbourgeoisien waren selbst in der Lage, eigene Bündnisse zu schmieden, etwa das militärisch-merkantile in Syrien oder das militärisch-islamische in Libyen. Die globale Wirtschaftskrise Ende der 70er Jahre brachte dieses Goldene Zeitalter jedoch an sein gerechtes Ende. Die Staatsausgaben mussten durch zunehmende Liberalisierung gesenkt werden, wodurch auch die Integrationskraft der staatskapitalistischen Eliten schwand. Es kam zu lokalen Aufständen, die immer mehr nur durch polizeiliche Repression statt materieller Kompromisse befriedet werden mussten. Die Regierung musste sich immer autokratischer an der Macht halten, wobei die Alternative klerikalkapitalistische islamistische Bündnisse gewesen wären.

Entwicklung

Aus dem Widerspruch der beiden kombinierten Interessenblöcke – dem säkularen staatskapitalistischen Herrschaftsblock und dem islamisch liberalkapitalistischen Block – entwickelte sich dann die Hauptkampflinie, die ihre letzte große Schlacht im Arabischen Frühling 2011 erlebte. Da die herrschende Ideologie nicht mehr materiell für die ganze Gesellschaft, sondern nur strategische Teile unterfüttert werden konnte, ist der Vorwurf der Korruption ein durchaus legitimer gewesen. Der Zerfall der herrschenden Ideologie machte sich auch daran bemerkbar, dass die Regierungen ihren panarabischen Anspruch aufgaben, während die islamistischen Kräfte die Leerstelle mit ihrer Deutung einer allarabischen Umma füllten.

Das Element der Entwicklung, das hier in besonderer Weise zum Tragen kommt, ist, dass auf der Grundlage von Ungleichheit eine Reaktion herausgebildet hat, welche nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische Ungleichheit vergrößert hat. Blieben die Konflikte zwischen säkularen Staatsorganen und traditionellen Gruppen vor sechzig Jahren noch regional begrenzt, nehmen sie heute transnationale Dimensionen an, die auch immer wieder Israel oder andere Staaten der Region bedrohen. Ging es früher um die Frage, wie lange man auf die Früchte der Industrialisierung warten müsse, liegt heute halb Syrien in Schutt und Asche, während ausgerechnet der gebildete und ausgebildete Teil der Bevölkerung als Geflüchtete im Ausland lebt.

Und auch die imperialistischen Mächte stehen in Anbetracht der Kombination der gesellschaftlichen Kräfte vor einem beständigen Dilemma. Immer wieder müssen sie zwischen den widersprüchlichen Gruppen austarieren, fördern im einen Land die islamistischen Gruppen, die Marktzugänge versprechen und im anderen die staatlichen Organe, da genau jene Gruppen die bürgerlichen Verfassungen bedrohen. Diese inkonsistente Politik führt damit auch zu beständigen Legitimationskrisen, da die wechselhafte Bewertung nicht mehr vermittelt werden kann, zumal sie zunehmend zu steigenden Militärausgaben für den Westen und einer zunehmenden Gefahr eines eskalierenden Konflikts führt.

Zusammenfassung

Die Methodik der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung arbeitet die Komplexität der Konflikte in Syrien und Libyen auf exzellente Weise heraus. Der politisch pro-kapitalistische und ökonomisch anti-imperialistische Herrschaftsblock steht einem politisch anti-kapitalistischen, aber ökonomisch pro-imperialistischen Oppositionsblock gegenüber. Sie zeigt, wie archaische und moderne Vorstellungen auf den materiellen Grundlagen einer kapitalistischen (Semi-)Peripherie zu hybriden Klassenlagen und Identitäten führen, die auf ideologischer Ebene hart umkämpft werden. Während säkulare Regierung ihre Treue zum Islam beschwören, bedienen sich islamistische Gruppierungen modernster Kommunikationsmittel, um für Kalifate zu werben. Selbst kommunistische Parteien, welche sich allein in der Arbeiter*innenklasse verwurzelt sehen, stehen unter Bekenntniszwang zur einen oder anderen Seite, wenn sie Proletarier*innen überhaupt eine Richtung in dieser Gemengelage aufzeigen wollen. Die Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung will genau dieses nicht tun. Sie stellt nur fest, was ist und welcher Problemlage sich politische Akteure ausgesetzt sehen.

Literatur:

Yalvaç, F. & Mengütürk, H. (2023): The Theory of Uneven and Combined Development and the Sociopolitical Transformations in Syria and Libya. In: Middle East Critique. Online First. DOI: 10.1080/19436149.2023.2271761.

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