Der Faschismus früher und heute

⋄ In den letzten zehn Jahren hat die globale Rechte stark an Rückhalt gewonnen, weshalb sich die Frage nach dem faschistischen Charakter von Organisationen wieder verstärkt stellt.

⋄ Carlos Eduardo Martins hat in der Critical Sociology die Begriffsgeschichte des Faschismus nachgezeichnet und auf den historischen und aktuellen Faschismus angewandt.

⋄ Im Mittelpunkt stand dabei die Theorie von Theotonio dos Santos, der den Faschismus nicht nur als Summe einzelner Merkmale, sondern Verlaufsform bestimmter Klassenformationen begreift.

⋄ Er unterscheidet zwischen dem kleinbürgerlichen Charakter des Faschismus in der Bewegungs- und dem großkapitalistischen Charakter des Faschismus in der Machtphase.

⋄ Der heutige Faschismus sei durch stärkeren Internationalismus und geringere ideologisch Geschlossenheit geprägt, weshalb er momentan eher Spielball des Großkapitals statt dessen Partei sei.

Ein Gespenst geht um in der Welt … das Gespenst des Faschismus. Ob Trump in den Vereinigten Staaten oder Putin in Russland. Ob die AfD in Deutschland oder die Hamas in Palästina. Überall ist man schnell mit der Charakterisierung als faschistisch, obwohl hinter diesem Begriff offensichtlich sehr unterschiedliche soziale Formationen versammelt sind. Insbesondere die sozialdemokratische und liberale Linke macht den Faschismus meist nur an antiliberalen oder autoritären Erscheinungsformen fest.

Carlos Eduardo Martins von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro hat den Aufstieg und die aktuelle Schwächephase des Bolsonarismus hautnah miterlebt. Er argumentiert, dass die Trennung von Liberalismus und Faschismus zu falschen Erkenntnissen der Linken führt. In der Critical Sociology stellte er eine Faschismustheorie vor, die den Faschismus als eine Verlaufsform mit mehreren sich logisch abwechselnden Klassenformationen ansieht.

Begriff des Faschismus

Während der Vorwurf des Faschismus meist schnell erhoben ist, ist doch die Definition dessen, was Faschismus oder faschistisch ist – insbesondere in Anwendung auf moderne Bewegungen – stark umstritten. Carlos Eduardo Martins stellt in seinen Überlegungen die Theorie von Theotonio dos Santos in den Mittelpunkt. Dieser sieht den Faschismus in seiner gesamten Verlaufsform als ein Ensemble verschiedener Klassenformationen an und unterscheidet zwischen dem Faschismus in der Bewegungsphase und dem Faschismus in der Regimephase.

In seiner Bewegungsphase ist die Klassenbasis des Faschismus das Kleinbürgertum. Dieses fühlt sich durch das internationalisierte Kapital von oben und von der Arbeiter*innenbewegung von unten bedrängt. Ihm droht der Abstieg in das Proletariat und der Verlust der relativen Privilegien innerhalb der Gesellschaft gegenüber den Arbeiter*innen. Somit bildet es eine Ideologie aus, die den gemeinsamen Kampf gegen den Sozialismus wie auch den internationalen Finanzkapitalismus zu integrieren versucht. Da der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit jedoch organischer Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft ist, muss der Faschismus diese Einheit diktatorisch und zwangskorporatistisch bewältigen, etwa durch Gleichschaltung antagonistischer Organisationen oder politische Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialist*innen.

Während der Faschismus in seiner Bewegungsphase eine kleinbürgerliche Orientierung aufweist, da diese sich von einer Neuordnung der Gesellschaft neue Aufstiegschancen erhoffen, trägt der zur Macht gekommene Faschismus den Interessen des Großkapitals Rechnung. Das Kleinbürgertum ist schlichtweg zu schwach, um alleine die Macht gegen das Proletariat zu halten und sucht sich daher einen Verbündeten, der mächtiger ist, als es selbst. Das bedeutet auch, dass sich die imperialistische Notwendigkeit des Kapitalexports zu Lasten romantischer Vorstellungen natürlicher Wirtschaftsbeziehungen auf der Basis kleiner und mittlerer Unternehmen durchsetzt. Um dennoch die populare Zustimmung nicht zu verlieren, muss der Staatsfaschismus daher seine imperialistischen Ansprüche radikalisiert durchsetzen, was zum globalen Widerspruch zu anderen faschistischen oder liberalen Staaten führt.

Daneben kennt Dos Santos noch eine atypische Form des Faschismus, bei dem ein faschistisches Regime ohne Klassenbasis in der eigenen Bevölkerung durch eine Weltmacht gestützt wird, was sich meist in technokratischen Militärbürokratien äußert. Als solche atypischen Faschismen kennzeichnet dos Santos etwa die Diktaturen in Südamerika der 50er bis 70er Jahre. Kurzum: der Faschismus ist nach dos Santos nicht nur eine Aufzählung verschiedener Merkmale, sondern eine logische Verlaufsform von Klassenformationen als Antwort auf politische, ökonomische oder soziale Krisen, die als Alternative zu sozialistischen Antworten an die Macht gelangt.

Die Liebelei mit dem Liberalismus

Einer der größten politischen und theoretischen Fehler der politischen Linken ist nach Martins die Behauptung der Unvereinbarkeit von Liberalismus und Faschismus. Trotz seiner vernichtenden Niederlage Mitte der Vierziger Jahre hielt die vorbehaltlose moralische Diskreditierung im Westen nicht lange an. Der Träger des internationalen Liberalismus war nach dem Zweiten Weltkrieg die USA gewesen, die den politischen Liberalismus mit einem ökonomischen Liberalismus und einem geopolitischen Realismus kombinierte. Sie definierte einen Bereich von Einflusssphären, deren Dominierung den Kampf gegen den kommunistischen Totalitarismus sichern sollte. Da die ökonomische Übermacht der USA in diesen Einflusssphären zu immer größeren Widersprüchen mit der Zivilbevölkerung führte, sahen sich die Vereinigten Staaten genötigt, ihr militärisches Potential auszubauen. Dies widersprach natürlich zum einen dem innenpolitischen ökonomischen Liberalismus, da der Militärapparat teilweise durch Steuerabgaben finanziert werden musste und auch dem außenpolitischen, da das recht der betroffenen Nationen auf Selbstbestimmung aberkannt wurde. Dieses Problem mussten bürgerliche Intellektuelle bewältigen.

Fündig wurden sie einem Klassiker der liberalen Theoriebildung: Ludwig von Mises. 1927 lobte dieser in seinem Buch „Der Liberalismus in der klassischen Tradition“ das faschistische Regime Mussolinis, da es das Privateigentum gegen die bolschewistische Barbarei verteidigte. Nach Mises sei nicht die Anwendung von Gewalt an sich der Unterschied zwischen Liberalismus und Faschismus, sondern der Grad an Zentralität der Gewalt. Als Mittel auf Krisenzeiten sei eine derartige Gewaltherrschaft als Provisorium zu tolerieren, wenn sie das bürgerliche System durch die Krise rette. Ähnlich argumentierte Friedrich Hayek, der transitorische Diktaturen als Mittel gegen die unbegrenzte Demokratie als notwendig erachtete. Die individuelle Freiheit über das Privateigentum sei das Ziel der Demokratie. Wenn die Demokratie jedoch diese individuelle Freiheit untergrabe, setze sie sich selbst außer Recht und müsse kurzzeitig neu justiert werden. Ohne individuelle Freiheit führe die Demokratie sonst zu einem totalitären Zugriff auf das Individuum. Norberto Bobbio wollte zwischen zwei Formen des Faschismus unterschieden wissen: Einer, welcher die Autonomie der Zivilgesellschaft gegen das repräsentative System verteidige und einer, welcher die Autonomie der Zivilgesellschaft durch Willkürherrschaft verabsolutiere. Nur der zweite Typ sei aus liberaler Sicht abzulehnen.

Wahrnehmung im Sozialismus

Darüber, dass der Faschismus ein Mittel der kapitalistischen Konservation oder Restauration sei, waren sich marxistische Theoretiker*innen immer einig. Umstritten war jedoch der genaue Modus. Für György Lukacs war der Faschismus ein Mittel der Bourgeoisie, das Kleinbürgertum für den Kampf gegen die Institutionen der Arbeiter*innenklasse zu gewinnen; mit der Aussicht, die dem Proletariat genommene Macht ersterem zuzuschlagen. Dagegen wandte Nicos Poulantzas ein, dass in den meisten faschistischen Kampfphasen die Arbeiter*innenklasse bereits institutionell desorganisiert gewesen sei, weshalb er den Grund eher in innerbourgeoisen Fraktionskämpfen verortet sah. Ernest Mandel hingegen sah im Faschismus das Großkapital gerade durch das mittlere und Kleinkapital, sowie das Kleinbürgertum herausgefordert und prägte den Begriff der „politischen Enteignung des Großkapitals“. Und natürlich darf die Analogiebildung August Thalheimers nicht unterschlagen werden, welcher den Faschismus als Klassenallianz zwischen Bourgeoisie und Lumpenproleatriat in Anlehnung an die Charakterisierung der Herrschaft Napoleons III. im „XVIII. Brumaire des Louis Bonaparte“ von Karl Marx unterschlagen werden.

Damit wendeten sich alle vier Interpretationen gegen die Definition der Komintern von 1935, die maßgeblich auf Georgi Dimitroff zurückgeht und den Faschismus an der Macht als „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ansah. Sie mag theoretisch zwar unterkomplex sein, beendete jedoch die zuvor verbreitete Arbeitsthese, dass der Faschismus genauso wie die Sozialdemokratie ideologische Formationen des Klassenkompromisses seien, wodurch sie wesensähnlich wären. Die Quintessenz, die Martins in Anlehnung an Dos Santos vorschlägt, ist den Faschismus nicht als statisches Phänomen, sondern als eine Verlaufsform zu betrachten, die eine Abfolge verschiedener Klassenbündnisse umfasst. Damit lässt sich sogar die Defintion der Komintern integrieren, da sie sich nur auf den an die Macht gekommenen Faschismus bezieht.

Faschismus früher und heute

Die generelle Diskussion über den Faschismus darf natürlich die Differenzen zwischen dem historischen Faschismus zwischen 1920 und 1945 bzw. 1974/75 und aktuellen faschistischen Tendenzen nicht verwischen. Konkret richtete sich der historische Faschismus gegen den Bolschewismus. Große Teile des liberalen Bürgertums hegten stille bis offene Sympathie für die radikale Niederschlagung der revolutionären Arbeiter*innenbewegung und einen zumindest politischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Zweitens sollte durch einen autoritären Korporatismus der Klassenkampf durch integrative und hierarchische Massenorganisationen ersetzt werden. Drittens richtete sich der historische Faschismus aber auch gegen einen internationalistischen Liberalismus, was vielen Liberalen die Gretchenfrage stellte. Und viertens entstanden aus diesem Kampf gegen das globalisierte Kapital innerimperialistische Widersprüche, die zur militärischen Niederlage des historischen Faschismus in Deutschland, Österreich, Italien, Japan und einigen osteuropäischen Staaten führten.

Der heutige Faschismus äußert sich in vielen Fragen vollkommen anders. Die meisten faschistischen Bewegungen zielen auf den Erhalt der internationalen Ordnung unter US-amerikanischer Dominanz gegen die sozialistischen, anti-imperialistischen oder religiös begründeten Widerstandsbewegungen der globalen Südens. Er begreift, dass die ökonomische, politische und militärische Vorherrschaft des Westens diesem die Extraprofite zuwirtschaftet, die zur erfolgreichen Befriedung des Klassenkampfes notwendig sind. Gegen diese Überausbeutung regte sich nach einer kurzen Phase der uneingeschränkten US-Hegemonie internationaler Widerstand, der zunächst in China eine Alternative für notwendige Handelsbeziehungen gewann. Doch gerade Schwellenländer wie Brasilien oder die Türkei stehen dieser Entwicklung gespalten gegenüber. Auf der einen Seite gibt es einen Teil der Bourgeoisie, der hofft, durch Nähe zum Westen in den Rang der imperialistischen Länder aufsteigen zu können, während andere Teile der Bourgeoisie lieber den Bruch mit den USA forcieren würden. Da es hier um strategische Fragen mit ungeheuren politischen, sozialen und ökonomischen Folgen geht, ist die Gangart der politischen Auseinandersetzung entsprechend hart.

Auch die westlichen faschistischen Bewegungen sind an der Konservierung des alten globalen Regimes interessiert und sehen dessen Machtverlust in der eigenen inneren Schwäche begründet. Diese rühre entweder durch die massive Einwanderung, die nicht mehr als biologische oder genetische Gefahr, sondern Überlastung der Sozialsysteme geframed wird. Und auf der anderen Seite rühre es von falschen ökonomischen Prioritäten: zu hohe soziale Leistungen, steuerliche Überlastung der mittleren Bourgeoisie, Machtkonzentration des Finanzkapitals.

Die Unterschiede zum historischen Faschismus haben dabei mehrere Ursachen. Zum einen sind die faschistischen Bewegungen eine Reaktion auf die linkspopularen Bewegungen, die sich im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise herausgebildet haben. Diese linken Bündnissen waren jedoch zum großen Teil bereits entideologisiert, sodass auch die darauf folgende Reaktion sich weniger ideologisch geschlossen zeigte. Das führte zweitens dazu, dass sich die Großbourgeoisie noch nicht zwischen Liberalismus und Faschismus entscheiden musste. Sie hat immer noch die Möglichkeiten, zwischen beiden Seiten der gleichen Medaille zu lavieren und je nach Gusto mal Freiheitsrechte stark zu machen und mal harte Repression gegen marginalisierte Gruppen zu fordern. Und das führt drittens sukzessive immer wieder zu einer Selbstdemokratisierung faschistischer Bewegungen. Diese sind kaum noch durch Führerkult geprägt, sondern treten als Amalgam mehrerer Führungsfiguren auf, die unterschiedliche Teile der Bevölkerung verschieden ansprechen. Und so kann der Bolsonarismus auch Bolsonaro leicht überleben.

Zusammenfassung

Was verbindet also heutige faschistische Bewegungen mit dem historischen Faschismus? In beiden Fällen versuchen kleinbürgerliche Schichten als Antwort auf krisenhafte Verhältnisse die gesellschaftliche Konstitution in der Hinsicht zu verändern, dass sie auf Kosten der Arbeiter*innenklasse (oder Teile von ihr) ihre soziale Position festigen oder gar aufsteigen. Die scheinbare Überwindung des Klassenantagonismus lässt sich jedoch nur mythologisch durch Referenz auf eine ethnische oder völkische Gemeinschaft ideell herstellen, während ein zur Macht gekommenes faschistisches Bündnis aus Kleinbürgertum und Bourgeoisie entweder in eine technokratische Diktatur über die Arbeiter*innenklasse, beschleunigte imperialistische Expansion oder vollendete ideologische Irrationalität abdriftet; der Hitlerfaschismus umfasste sogar alle drei Aspekte.

In dieser Darstellung ist die AfD ganz klar als faschistisch zu verstehen. Sie wird dominant vom Kleinkapital und abstiegsverängstigten Kleinbürgertum getragen, richtet sich im Wesentlichen gegen den Sozialstaat und die Arbeitnehmervertretungen und versucht, die migrantischen Teile der Arbeiter*innenklasse für eine Surplusausbeutung durch das kleinere und mittlere Kapital zu marginalisieren. Von einer an die Macht gekommenen AfD ist wohl am ehesten eine technokratische Diktatur zu erwarten, welche die gesellschaftlichen Kosten auf die Familien abwälzt, die Freiheit des Kapitals ausbaut und Aufstiegsmöglichkeiten wieder wesentlich an Besitz koppelt. Einem Bündnis Sahra Wagenknecht kann zwar die gleiche Klassenbasis nicht abgesprochen werden und sie versucht, eine Volksgemeinschaft auf der mythologischen Basis einer verklärten Brandt-Schmidt-Ära zu propagieren; ihm ist aber die Feindschaft zu den Organisationen der Arbeiter*innenklasse fremd, weshalb sie immerhin im Klientel der AfD diese womöglich schwächen kann. Vielleicht zwingt aber die linkskonservative Alternative das Großkapital auch schon vor einer faschistischen Machtergreifung, sich zur AfD zu positionieren. Aktuelle Schlussbemberkung: In diesem Modell macht es natürlich wenig Sinn, die Hamas als faschistisch zu charakterisieren, da die politisch-ökonomischen Bedingungen für faschistische Bewegungen im Allgemeinen in einem größtenteils besetzten, heteronom bestimmten und kaum proletarisierten Palästina gar nicht vorhanden sind.

Literatur:

Martins, C. (2023): The Resurgence of Fascism in the Contemporary World: History, Concept, and Prospective. In: Critical Sociology. Jahrgang 49. Ausgabe 7-8. S. 1095–1108.

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