Der vulgäre Brecht

⋄ Bertolt Brecht gilt als ein Dramatiker, der in seinen Stücken den Marxismus für einfache Arbeiter*innen zugänglich machen wollte.

⋄ Sein philosophischer Positivismus stand dabei in scharfem Kontrast zur erkenntnistheoretischen Skepsis der Frankfurter Schule.

⋄ Neil Levi analysierte in der Rethinking Marxism das “plumpe Denken” Brechts anlässlich der Sonderausgabe zu einem Kongress über Vulgärmarxismus.

⋄ Viele Autor*innen hielten die schlichte Frage nach den materiellen Interessen der Menschen für eine progressive Form der Welterschließung.

⋄ Brecht hingegen habe dieses Denken aber in seinem Dreigroschenroman explizit kritisiert und in die Nähe imperialistischer Herrscher und des Faschismus gestellt.

Bertolt Brechts Werk ist im doppelten Sinne für seine Vulgarität bekannt. Erstens bediente er sich gerne kraftausdrucksreicher Gossensprache, um die soziale Realität unverblümt auf die Bühne zu bringen. Zum anderen gilt er als jemand, der seinen Marxismus nicht durch schöngeistige und spitzfindige Interpretationen ausdrückte, sondern durch einfache, geradezu vulgäre Fragen: Wem gehört was? Wer profitiert und wer zahlt die Rechnung? Aus diesem Grunde eignet sich Brecht besonders hervorragend als Gegenstand einer Fallstudie zu Potential, Grenzen und Kritik des Vulgärmarxismus, was die Rethinking Marxismus auf einem Kongress kürzlich diskutieren ließ. Neil Levi arbeitete dabei den Begriff des „groben Denkens“ bei Brecht heraus, einmal in seiner Existenz als Vorurteil durch eine einflussreiche Rezension Walter Benjamins und einmal in seiner werkimmanenten Rolle.

Brecht, der Positivismus und die Frankfurter Schule

In der Erzählung des westlichen Marxismus nimmt Brecht nicht nur als Schöpfer dramatischer Werke eine markante Position ein, sondern auch als Anhänger eines radikalen Positivismus. Brecht ließ nie einen Zweifel daran, dass die Dinge erkennbar waren. Soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und die Nutznießer von Kriegen ließen sich anschauen, wenn man sie vorführte. Daher hatten Brechts Werke wie wenig andere eine didaktische Funktion. Brecht wollte mit seinen Werken etwas erreichen und dieses etwas war zum größten Teil Aufklärung. Sein „episches“ bzw. „dialektisches Theater“ sollte die Zuschauer*innen zur Analyse anregen. Durch Verfremdungseffekte sollte die Identifikation und zu starke Empathie mit den Figuren vermieden werden. Der Inhalt des Stücks sollte mit dem Inhalt des eigenen Lebens verglichen werden, um Handlungsalternativen für die Figuren, aber auch die Betrachter*innen auszuloten.

Am anderen Ende des positivistischen Spektrums stand die Frankfurter Schule. Sie sah alle Erkenntnis zutiefst durch die bestehenden Verhältnisse getrübt und fragte, wie es möglich sei, das Hier und Jetzt auf der Basis des Hier und Jetzt überhaupt zu überwinden. In linken, kritischen oder gar revolutionären Theaterstücken entdeckte ein Adorno häufig nur die Reproduktion der alltäglichen Warenförmigkeit, Verdinglichung und Entfremdung. Wenn der Besucher ein Stück konsumiere, dann sei dies nur die Perpetuierung des alltäglichen Konsumismus; die kapitalistische Totalität erfasse auch ihre ärgsten Feinde. Nur in einer sich und die Gesellschaft verändernden Praxis, die sich ihrer eigenen Grundlagen bewusst sei, ließ sich iterativ Emanzipation erkämpfen.

Kein Wunder, dass Brecht nie ein großer Freund der Frankfurter Schule wurde. Einen Walter Benjamin – obwohl enger Vertrauter Brechts – nannte dieser ein „Würstchen“, da die kritische Theorie mehr verdunkle als erhelle. Während die Frankfurter Schule Instrumentalität von Kunst als Kopie der industriellen Kulturindustrie scharf kritisierte, hatte Brecht mit instrumentellen Mitteln keine Berührungsängste. Brecht wollte etwas vermitteln. Er wollte es einfach vermitteln, für einfache Menschen.

Brechts Legacy

Dieser Impetus macht bis heute Brechts Legacy aus. So forderte der Historiker Todd Cronan, die heutige Linke brauche mehr Brecht und weniger Adorno. Cronan argumentierte, dass Adorno und Horkheimer die Tatsache, dass die deutsche Linke (inklusive des Frankfurter Instituts für Sozialforschung) die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für den Hitlerfaschismus vor der Shoah falsch einschätzte, im Nachhinein überkompensierte. Anstatt sich den konkreten theoretischen Fehler zu widmen, stellten sie die Erkenntnisfähigkeit an sich in Frage, wozu ein ordentlicher Schluck Hybris gehöre, wenn man individuelle Fehler offenbar für unwahrscheinlich hält. Brecht hingegen habe zwar nie eine belastbare Theorie des Faschismus entwickelt, aber Antisemitismus und Rassismus als das erkannt, was sie wesenhaft sind; Ablenkungen vom Klassenkampf.

Neil Levi hingegen kann sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Mit Adorno stellt er auch an Brecht die Frage, wie man denn, wenn man als Lehrer auftrete, vermeiden könne, das Publikum in Passivität zu halten. Brecht habe stets den Sport bewundert, die emotionale Hingabe, mit denen sich die Fans mit Athlet*innen oder Mannschaften identifizierten und wollte dies auch für der Bühne: Rauchertheater, in denen die Menschen wie bei einem Boxkampf Zigarren pafften oder athletische Körper, die an Sehnsüchte, Instinkte und Lustgefühle appellierten. Beim Sport weiß der Zuschauer zwar um seine von den Sportler*innen unterschiedene Lage, ist als jubelnde oder zornige Menge jedoch Teil des Geschehens und spekuliert noch tagelang nach dem Fußballspiel, wie man den Ball als Mittelstürmer besser ins Tor gebracht hätte. Levi gibt zu bedenken, dass es auch diese ästhetischen Formen waren, die der Hitlerfaschismus bei den Olympischen Spielen 1936 nutzbar machte. Hatte nicht der Sport für viele Menschen die Religion als Opium abgelöst?

Levi sieht bei Brecht sogar das individuelle Opfer für die große Sache, die zentrales Moment des Sports ist, fetischisiert. Er erinnert an das Lehrstück „Die Entscheidung“ aus dem Jahre 1930, als ein revolutionäres Komitee über das Fehlverhalten eines Genossen richten soll. Alle Taten wurden aus Empathie zum notleidenden Volk begangen, brachten jedoch seine Genossen und den Erfolg der Mission in Gefahr. Am Ende wird er zum Tode verurteilt. Ziel des Stücks sei es gewesen, persönliche Gefühle für den Protagonisten zu Gunsten eines höheren Ideals zurückzustellen. Karl Marx habe aber nie das individuelle Opfer für die große Sache gefordert. Für Marx sei in revolutonärer Zeit das Opfer gerade keine besondere Form mehr, sondern wenn die zeit reif ist, fordere das Opfer, das eine Revolution vielleicht von den Arbeiter*innen verlangt wird, weit weniger, als die tägliche Ausbeutung.

Vorurteil Grobes Denken

Ein im englischsprachigen Raum populär gewordener Topos Brechts ist das so genannte „plumpe Denken“ – „crude thinking“. Frederic Jameson beispielsweise hielt dieses für eine weitere Verfremdungstechnik Brechts, durch die möglichst simple Nachfrage nach den materiellen Interessen herrschende Ideologie in Frage zu stellen. Auch Alain Badiou nannte jede Frage nach den materiellen Interessen „vulgär“ – in einem Aufsatz der passenderweise den Titel „Plumpes Denken“ trug. Exemplarisch wird hier meist das Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ angeführt, das man gerne nochmal in voller Gänze hier zitieren kann:

Wer baute das siebentorige Theben? 
In den Büchern stehen die Namen von Königen. 
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? 
Und das mehrmals zerstörte Babylon, 
Wer baute es so viele Male auf ? In welchen Häusern 
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? 
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, 
Die Maurer? Das große Rom 
Ist voll von Triumphbögen. Über wen 
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz 
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis 
Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang, 
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. 
Der junge Alexander eroberte Indien. 
Er allein? 
Cäsar schlug die Gallier. 
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? 
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte 
Untergegangen war. Weinte sonst niemand? 
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer 
Siegte außer ihm? 
Jede Seite ein Sieg. 
Wer kochte den Siegesschmaus? 
Alle zehn Jahre ein großer Mann. 
Wer bezahlte die Spesen? 

So viele Berichte, 
So viele Fragen.

Fragen eines lesenden Arbeiters, 1935/36

Das Prinzip ist klar ersichtlich. Durch einfache Fragen soll die Fokussierung der Geschichtsschreibung auf die großen Männer und die Sieger der Kriege, in der die Arbeiter*innen keine Rolle spielen, entlarvt und die eigentlichen Schöpfer des Reichtums ins Bewusstsein gedrängt werden. Die Differenz zwischen der Wahrnehmung von Geschichte in Schule und Gesellschaft und der eines lesenden Arbeiters soll gerade durch die Schlichtheit der Fragen offen zutage treten.

Dass „grobes Denken“ bei Brecht in erster Linie mit diesem Gedicht oder ähnlicher Kurzprosa verbunden wird, liegt maßgeblich an einer Rezension Walter Bejamins. Benjamin vertrat in seinem Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ (1940) die Ansicht, Marxist*innen müssten die Geschichte „gegen den Strich bürsten“. Für Benjamin war Wissen um marxistische Methoden und Inhalte der Ausgangspunkt, um die in der herrschenden Geschichtsschreibung versteckten Wahrheiten zu identifizieren. Brecht hingegen lässt offen, was die Rezipienten mit den Fragen oder kurzen Bonmots über Widersprüche der Geschichte letztendlich anfangen.

Benjamin prägte das Denken über das „grobe Denken“ durch eine Rezension, die erst posthum veröffentlicht wurde. Es handelt sich um eine Abhandlung über den Dreigroschenroman von Brecht von 1934 – nicht zu verwechseln zuvor erschienenen Dreigroschenoper. Dort heißt es „Die Hauptsache ist, plump denken zu lernen. Plumpes, das ist das Denken der Großen.“ Benjamin sah in diesem plumpem Denken den schnellen Übergang von der Theorie zur Praxis. Die Praxis verändere die materielle Welt und so auch das Bewusstsein und dränge sich dann als herrschendes Bewusstsein auch einer defizileren Theoriebildung auf, wodurch das „plumpe Denken“ so wirkmächtig wäre.

Grobes Denken in der werkimmanenten Interpretation

Levi stellt diese Interpretation jedoch in Frage, indem er den Kontext der zitierten Stelle etwas genauer analysiert.

„People don’t always judge our statesmen rightly. They only see this action or that, and they criticise it. But what do they understand about such things? They say: Such and such a diplomatic action was wrong. But only because they go by the outward results. An absolutely ridiculous viewpoint! Do they know what the real purpose of that action was? When the German Kaiser telegraphed President Krüger, which stock prices were rising then and which were falling? Of course, only the communists ask that. But between ourselves, it is not only the communists; the diplomats want to know too. That’s rather a blunt example, but the idea is very near the reality. The chief thing is to learn to think crudely. Crude thinking is the thinking of the great.“

englische Übersetzung aus dem Aufsatz, S.555.

Angespielt wird auf die so genannte Krüger-Depesche 1896, als britische Freischärler die Unabhängigkeit der südafrikanischen Burenrepublik in Frage stellten. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. stellte sich in einem öffentlichen Telegramm weitgehend hinter die niederländisch-stämmigen Buren, was in der deutschen Presse harsche Kritik auslöste. Man befürchtete diplomatische Spannungen mit Großbritannien, ohne dass die Parteinahme für die Buren irgendwelche Vorteile brächte. Der Protagonist bei Brecht kritisiert nun wiederum diese Debatte, dass das reine Denken in Resultaten nicht das Denken großer Männer sei. Levi argumentiert jetzt, dass es sich beim „Denken großer Männer“ um eine negative Abgrenzung Brechts handele und nicht eine positive Anleitung zum Denken.

Erstens werde im Abschnitt nicht gesagt, dass der Kaiser so handelt, weil die Aktienkurse fallen oder steigen, sondern nur während sie fallen oder steigen. Eine kausale Verbindung wird zwischen dem Telegramm und der materiellen Basis gar nicht hergestellt. Zweitens beruhe die Fehlinterpretation auf der falschen Annahme, kursiv gedruckte Sätze müssten als Kommentar Brechts gelesen werden (die Rede ist kursiv abgedruckt). Mehrere literaturtheoretische Untersuchungen hätten jedoch gezeigt, dass Brecht kursive Schrift nur als Betonung, nicht als Kommentierung benutzt. Drittens lasse Brecht mit Wilhelm II. ausgerechnet eine Figur als großen Mann charakterisieren, die umgekehrt gerade als eine Person in die Geschichte einging, die aus Größenwahn die geschickte Bündnispolitik Bismarcks zerstört und Deutschland in die Niederlage im Ersten Weltkrieg getrieben habe. Zuletzt hält Levi das „grobe Denken“ in Territorien, Nationen und Geldwerten für eine Verarbeitung Brechts, was faschistisches Denken sei. Wilhelm II. wurde bei seiner Solidarität mit den Buren gerade durch die Vorstellung gemeinsamer Abstammung getrieben und nicht von politischer Vernunft. Hitler habe in seinen Tischgesprächen die pure Machtpolitik, wie sie im Abschnitt angedeutet wird, geradezu mustergültig ausformuliert. Die Personalisierung und der Nationalismus, welche in diesen Zeilen gelobt werden, gelten für gewöhnlich als Werte, die Brecht nicht teilte.

Einzig die Bemerkung, dass normalerweise nur die Kommunist*innen ähnliche Fragen, wie die Diplomaten stellten, lässt Zweifel an Levis Auslegung aufkommen. Dies könnte so gemeint sein, dass nur Kommunist*innen in der Lage seien, die Eigenheiten der Herrscherpersönlichkeit von den materiellen Herausforderungen zu unterscheiden; ähnlich wie die Diplomaten gleichermaßen den Interessen des Herrschers und der politischen Notwendigkeiten Rechnung tragen müssten.

Zusammenfassung

Bei aller der Kritik an hyperraffinierten theoretischen Konstrukten der negativen Dialektik und bei aller Liebe zum Diktum Rosa Luxemburgs, dass die revolutionärste Tat sei, zu sagen, was ist: Vulgarität ist nicht Banalität. Die einfachen Fragen an die Klassengesellschaft und die einfachen Beobachtungen der Obskuritäten der kapitalistischen Gesellschaft bauen auf einem tiefen theoretischen Fundament Brechts auf. Wer nur fragt, was wem nützt, kommt über einfache Feststellungen über das Funktionieren der Gesellschaft nicht hinaus. Die Fragen des lesenden Arbeiters müssen ja gerade als Fragen eines LESENDEN Arbeiters, also eines Arbeiters, der sich theoretisch weiterbildet, aufgefasst werden. Das grobe Denken birgt nach Levi sogar die Gefahr, positiv antizipiert zu werden und in einem Kampf-aller-gegen-alle-Zynismus mit einer überspitzten Fetischisierung der reinen Macht im Faschismus auszuwachsen. Ein tauglicher Vulgärmarxismus darf daher nicht bei den Erscheinungen stehen bleiben. Es gilt vielmehr, die Einheit von Wesen und Erscheinung selbst zu vulgarisieren. Die eigentlichen materiellen Interessen sind nicht einer verschleiernden Ideologie gegenüberzustellen, sondern beide sind auf ihren gemeinsamen Ursprung – die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln – zurückzuführen. Das ist die eigentlich vulgäre Tat des Kapitalismus; vulgär im Sinne von abstoßend.

Literatur:

Levi, N. (2023): Vulgar, Crude, Foolish: Brecht, Teaching, Fascism. In: Rethinking Marxism. Jahrgang 35. Ausgabe 4. S.541-563.

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