Vulgaris Marxistak: ein kleiner Problemaufriss des Vulgärmarxismus

⋄ Als Vulgärmarxismus kann sowohl eine zu starke Popularisierung der Marxschen Ideen als auch realitätsferne abstrakte Elfenbeinturmdebatten verstanden werden.

⋄ Als Urvater des Vulgärmarxismus gilt nach Kritiken Luxemburgs und Lenins der sozialdemokratische Parteitheoretiker Karl Kautsky.

⋄ Auch der ungarische Marxist György Lukacs grenzte sich in seinem Frühwerk von Kautsky und seiner Idee, den wissenschaftlichen Sozialismus von außen in die Massen hineinzutragen, ab.

⋄ Doch hinter dem polemischen Begriff steht eine berechtigte Debatte, inwiefern und in welchen Teilen das komplexe Marxsche Werk vereinfacht werden muss, um auch neben einer vollen Arbeitswoche verstanden werden zu können.

⋄ Edward Baring zeichnete die Debatte in der
Rethinking Marxism nach.
György Lukacs: Revolutionär und Vordenker der Frankfurter Schule

Wem wurde nicht schon einmal der Begriff „Vulgärmarxist“ an den Kopf geworfen? Mal kann man es deshalb hören, weil man versucht, ein marxistisches Argument möglichst einfach darzulegen, mal hört man es, wenn man versucht, ein Argument zu stark in höheren philosophischen Zusammenhängen einzubetten. Mal kritisiert es die Theorieverhaftung einer Position, mal einen übertriebenen Aktionismus. Kurz: mit dem Vorwurf des Vulgärmarxismus kann so ziemlich alles kritisiert werden. Doch warum bedient man sich dieser Stilfigur, anstatt ein Argument inhaltlich zu widerlegen?

Edward Baring hat sich in der Rethinking Marxism mit der frühen Kritik von György Lukacs am Urvater des Vulgärmarxismus Karl Kautsky auseinandergesetzt. Über die Versuche, das Schwere einfach zu machen und das Scheitern.

Zum Begriff des Vulgärmarxismus

Der Vorwurf des Vulgärmarxismus lässt sich bereits in den frühen Schriften Lenins finden, womit er die Sozialrevolutionäre bzw. den menschewistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie bezeichnete, aber er verwendete ihn überraschend selten. Wirklich an Fahrt gewann der Begriff erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Der revolutionäre Teil der Sozialdemokratie, der sich in den neuen kommunistischen Parteien vereinigte, grenzte sich durch diesen von der Zweiten Internationale ab, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs so krachend gescheitert war. Ihr wurde vorgeworfen, sich in intellektuellen Zirkeln von den Proletarier*innen abgegrenzt zu haben, weshalb sie nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Arbeiter*innen gegen das drohende Blutbad 1914 zu mobilisieren. Sie hätten die Revolution auf die lange Bank geschoben, um ihre Abgeordnetenmandate nicht zu gefährden und die Arbeiter*innenschaft damit eingelullt.

Doch insbesondere die in der Dritten Internationale organisierten Kommunist*innen traf der Vorwurf ebenso. Westliche Marxist*innen sahen den östlichen Marxismus als zu schematisch an. Die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse werde zu Lehrformeln heruntergebrochen und insbesondere sahen in der massiven Gewalt, die notwendig war, um die Oktoberrevolution durchzusetzen, den Beleg dafür, dass auch die Bolschewiki das Klassenbewusstsein der Massen nicht richtig interpretiert hatten.

Westliche und östliche Marxist*innen waren sich trotz der gegenseitigen Vorwürfe einig, dass sich als erste die Theoretiker*innen der Zweiten Internationale der Vulgarisierung des Marxismus schuldig gemacht hatten. Und an zentraler Stelle steht hier Karl Kautsky. Während die westlichen Marxist*innen sich auf die heftigen Angriffe Rosa Luxemburgs auf ihren einstigen Lehrer stützen konnten, taten es die östlichen auf die nicht weniger polemische Kritik Lenins. Zudem konnte man Kautsky vorwerfen, die Burgfriedenspolitik der SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs zwar nicht unterstützt, ihr aber doch nicht entschieden genug entgegengetreten zu sein. Viel Feind, viel Ehr also für Kautsky. Doch womit verdiente sich Kautsky diesen zweifelhaften Ruhm?

Zur Problemstellung des Vulgärmarxismus

Kautsky stellte in seinen Kommentaren zum Erfurter Parteiprogramm der SPD 1891 fest, dass die Arbeiter*innen zwar durch ihre Klassenlage ein gewisses Gefühl für ihre Situation und ein subjektives Klassenbewusstsein für die Notwendigkeit der Organisationen in Gewerkschaften, dem Streik als Kampfmittel und einer politischen Vertretung durch die Sozialdemokratie gewännen. Ohne weitere Bildung verharre dieses Bewusstsein jedoch nur bei den unmittelbaren Kämpfen. Die Notwendigkeit, den Kapitalismus als Ganzes abzuschaffen, sei ein sehr abstraktes Ziel, dass sich erst aus der wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus ergäbe. Dazu hätten die Arbeiter*innen neben der Lohn- und der konkreten politischen Arbeit jedoch kaum Ressourcen. Es benötige also einen Apparat an Parteitheoretiker*innen, welche die Idee eines „Zukunftsstaates“ für die Massen popularisieren könnten.

Damit war das Problem verbunden, dass Intellektuelle, die in der Lage seien, eine politische Theorie auszuarbeiten, diese jedoch nur von „außen“ in das Proletariat hineintrügen, während sie dessen Klassenlage nicht teilten und leicht anfällig für kleinbürgerliche Attitüden aller Art würden. Dies müsse durch den Klasseninstinkt der Arbeiter*innen, die nutzbares von nutzlosem zu unterscheiden wüssten, im Nachgang ausgebessert werden. Kautsky selbst verstand seinen allgemeinverständlichen Abriss über das Kapital als Beitrag für die Vereinigung von Klasseninstinkt und wissenschaftlichem Sozialismus. Bis heute sollte sein Buch die erfolgreichste sozialdemokratische Publikation aller Zeiten bleiben.

Die Krux bei Kautsky lag nun jedoch in seiner Methodik begründet. Um das Kapital theoretisch zu entschlacken, stellte Kautsky seine Leser*innen im Wesentlichen vor die Resultate der Marxschen Theorie, was zu zwei Missverständnissen führte. Erstens bildete sich allein in den Resultaten das widersprüchliche Leben der Arbeiter*innen nicht mehr adäquat ab, so dass das Buch eben keine Anleitung war, aus den eigenen Erfahrungen auf die Notwendigkeit der Revolution zu schließen. Das wiederum führte zum zweiten Missverständnis, dass durch die fehlende Vermittlung von Endziel und Alltagspraxis der Sozialismus als Naturnotwendigkeit erschien. Die Mitgliedschaft in Gewerkschaft und Genossenschaft, sowie die Wahl der SPD wurden als hinreichenden Beitrag empfunden, den revolutionären Übergang so bequem wie möglich zu gestalten.

Kritik an Kautsky aus der SPD

Nun war es keinesfalls die Absicht Kautskys, die Arbeiter*innen zur Passivität zu erziehen, sondern es war das Ergebnis seiner spezifischen Form der notwendigen didaktischen Reduzierung. Das Auseinanderfallen von alltäglichem Klassenbewusstsein und Fernziel wurde in der SPD recht ernst genommen. Adolf Levenstein beobachtete beispielsweise mit Sorge die Entwicklung dieser Lücke und versuchte, durch moderne soziologische Methoden das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen zu analysieren, um Anhaltspunkte für die weitere Vermittlung zu finden. 1906 wurde in Berlin die Parteischule gegründet, um die mittleren Kader der Partei hinreichend theoretisch zu schulen, dass sie nicht alleine von Kautskys Darstellung abhängig waren, sondern selbstständig die Fragen der Arbeiter*innen in sozialistischem Geiste beantworten könnten.

Als die SPD 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag stellte, verschärfte sich die Debatte. Um eine Wahlrechtsreform durchzusetzen, paktierte die Fraktion mit zwei liberalen Parteien und machte dafür Abstriche an ihrem sozialen Programm. Kurz nach der Wahl brachen die Koalitionspartner jedoch mit den Sozialdemokraten und das programmatische Opfer wurde nicht mit der erhofften Reform vergolten. Die polnischstämmige Rosa Luxemburg und der Däne Anton Pannekoek schlugen daher einen radikalen Strategiewechsel vor. Massenaktionen wie Generalstreiks sollten zum zentralen Kampfmittel werden, während die parlamentarische Arbeit nur eine Nebenrolle spiele. Die Massen würden durch die Schule des praktischen Kampfes den Klassenantagonismus erfahren und das Ziel der Abschaffung der Klassengesellschaft würde sich automatisch aufdrängen. Kautsky selbst war gegen diese Strategie und warf der spontaneistischen Auffassung Luxemburgs und Pannekoeks eine ebenso popularisierende Vereinfachung des Marxismus vor. Massenaktionen seien zwar erfolgreich in Zeiten der organisatorischen Stärke; wenn die Reaktion jedoch zurückschlage, bräuchte es ideologische Standhaftigkeit. Und so schalt Kautsky Pannekoek mit dem Begriff „Vulgärmarxist“.

György Lukacs und der Vulgärmarxismus

Wie vielschichtig die Debatte um den Vulgärmarxismus war, macht ein Beispiel dabei ganz besonders deutlich: dass Frühwerk des ungarischen Marxisten György Lukacs. In seiner Schrift „Taktik und Ethik“ aus dem Frühjahr 1919 warf er im Hinblick auf das Versagen der SPD bei der Vergabe der Kriegskredite Kautsky genau diese Vulgarisierung vor.

„Jeder Proletarier ist dank seiner Klassenzugehörigkeit orthodoxer Marxist. Theoretiker können mit viel harter Denkarbeit dem Proletarier nur geben, was er durch seine Klassenzugehörigkeit ohnehin schon besitzt, insofern er seine Klassenzugehörigkeit reflektiert und alle notwendigen Konsequenzen aus dieser zieht.“

zitiert nach Baring (2023), S.7.

Kautskys Fernziel sei zwar ein schönes Theme für Reden und Bücher, was man den Arbeiter*innen jedoch an die Hand geben müsse, sei das revolutionäre Werkzeug, mit dem sie umsetzen könnten, was sie längst erkannt hätten. Das seien zum einen ganz praktische Mittel, aber auch die revolutionäre dialektische Erkenntnismethode.

Lukacs’ Vertrauen in das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen befand sich, während er diese Zeilen schrieb, auf einem Höhepunkt. Am 21. März 1919 rief Bela Kun die ungarische Räterepublik aus und ernannte Lukacs zum Volkskommissar für Bildung. Lukacs sah das ungarische Proletariat sogar bewusster als das russische. Die Bolschewiki hätten erst unter der Diktatur einer Partei das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen entwickeln und daher zu massiver Gewalt gegenüber den bürgerlichen Bewusstseinsformen obliegenden politischen Gegnern greifen müssen. Sie ungarische Revolution sei hingegen weitgehend friedlich verlaufen. Dies führte Lukacs auf den hohen Bewusstseinsgrad der ungarischen Arbeiter*innen zurück, das sich ganz ohne Kaderpartei entwickelt hätte. Die Zeiten der Partei seien in Ungarn vorbei und Lukacs setzte seinen ganzen Optimismus in die spontane Organisationsfähigkeit der Werktätigen.

Lukacs revidiert sich

Dieser revolutionäre Optimismus verschwand mit dem Sturz der Räterepublik. Als rumänische Truppen Budapest besetzten und den konservativen Militär Miklos Horthy als Reichsverweser an die Macht hievten, blieb der Widerstand der Arbeiter*innen marginal. In „Geschichte und Klassenbewusstsein“, das drei Jahre nach der Räterepublik im Jahre 1922 erschien, kritisierte er Luxemburg für die Vorstellung, man bräuchte nur auf die Spontaneität der Massen zu warten. Klassenbewusstsein sei durch die Klassenlage nur eine objektive Möglichkeit, aber kein Faktum. Kautskys Fernziele lehnte er dabei weiterhin ab. Er sprach sich für ein taktisches Vorgehen der Partei aus, dass scheinbar reformistische Ziele anstrebte, diese aber in einen revolutionären Kontext einbettete. Die Partei könne hier nicht einfach agitieren, sondern müsse in lebhafter Auseinandersetzung mit dem Proletariat Strategie und Taktiken entwickeln. Klassenbewusstsein betrachtete er nicht mehr als Inhalt, den man habe könne oder nicht, sondern als Form, in der die Inhalte arrangiert sind. Es sei ein Prozess, der nur in seiner Totalität verstanden und interpretiert werden könne.

Den Begriff des Vulgärmarxismus weitete Lukacs also insofern aus, dass er nicht mehr eine Erziehung hin zum Klassenbewusstsein, das nicht aus den Proletarier*innen selbst entstammte, sondern von „außen“ aufgesetzt wurde bezeichnete, sondern jede Art politischer Theorie, die nicht geeignet war, die Totalität der kapitalistischen Klassengesellschaft, sowie ihrer ideologischen Überwindung zu erfassen. Genoss*innen wie Kautsky seien weniger Verursacher der ideologischen Krise des Proletariats, sondern ihr Symptom.

Zusammenfassung

Mit seiner Neudefinition des Vulgärmarxismus hat sich Lukacs jedoch um die eigentliche Frage herumgedrückt: Wie kann man die marxistische Theorie soweit didaktisch reduzieren, dass sie ohne Verlust ihrer Erklärungsmacht verständlich bleibt? Während Kautsky die Theorie durch Schwerpunktsetzung auf das Ziel reduzieren wollte, schlug Lukacs zunächst mit der Reduzierung zu Gunsten der Methode eine reale Alternative vor. Jedoch scheiterte Lukacs’ wie Kautskys Konzeption in der Praxis. Die SPD mobilisierte 1914 keine Massenstreiks und sie kamen auch nicht aus der Arbeiter*innenbewegung selbst. 1919 verteidigten die ungarischen Arbeiter*innen die Räterepublik nicht entschlossen genug gegen die Reaktion. Der Versuch Lukacs’, eine Neuorientierung vorzunehmen, indem er auf die Kategorien Form, Inhalt, Prozess und Totalität zurückgriff vermochte vielleicht, das Didaktikproblem intellektuell zu bewältigen; eine irgendwie operationalisierbare und praktisch umsetzbare Methodik der Stärkung des Klassenbewusstseins gelang dadurch jedoch nicht.

Lukacs wurde vielmehr zu einer der geistigen Quellen der Frankfurter Schule. Und genau diese sollte in der Folge die Totalität der Verdinglichung in der warenproduzierenden Gesellschaft derart fetischisieren, dass sie die Bruchstellen der Kapitalismus aus dem Auge verlor. Angesichts der politischen und ideologischen Macht des Kapitals fand sich die Frankfurter Schule mit der Rolle als sich radikal gebende Mahner ab, anstatt auf ein revolutionäres Klassenbewusstsein hin zu arbeiten. Wahrgenommen wurde sie lediglich von Akademiker*innen, während ein Adorno bestenfalls für seine Unverständlichkeit in den breiten Massen bekannt wurden. Sie wurde kurzum vulgär.

Das soll kein einseitiger Verriss der Frankfurter Schule sein, sondern aufzeigen, dass sich verschiedenste Strömungen am Problem des Vulgärmarxismus bereits die Zähne ausgebissen haben. Wer gestern noch den anderen kritisierte, wurde morgen schon von eigenen Rückschlägen eingeholt. Und so sollte man den Begriff „Vulgärmarxist“ nicht als Beleidigung verwenden. Denn hinter dem Begriff steht die reale Frage, wie angesichts des notwendig falschen Bewusstseins über die Gesellschaft, der totalen Kontrolle des Kapitals über alle Institutionen der Macht von der Schule bis zur Polizei und der ständigen Spaltungsversuche des Proletariats durch Konservative, Liberale und Postfaschisten ein revolutionäres Klassenbewusstsein gefördert werden kann, dass dem Studierenden, der Bauarbeiter*in und der Kassierer*in gleichermaßen zugänglich ist.

Literatur:

Baring, E. (2023): Who Are You Calling Vulgar? Lukács, Kautsky, and the Beginnings of “Western Marxism”. In: Rethinking Marxism. Online First. DOI: 10.1080/08935696.2023.2241345.

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