Zur Aktualität des Denkens von Ruy Mauro Marini

⋄ Die Januarausgabe der Latin American Perspectives widmet sich den Theorien um Abhängigkeit und Entwicklung Lateinamerikas im 21. Jahrhundert.

⋄ Wichtigster Ankerpunkt der Ausgabe ist der Bezug auf Ruy Mauro Marini und dessen marxistische Abhängigkeitstheorie.

⋄ Ruy Mauro Marini war ein ökonomischer und soziologischer Theoretiker, der aus Brasilien wegen des Militärputsches 1964 fliehen musste.

⋄ Seine Theorie vereint Elemente um den ungleichen Tausch, die Überausbeutung und den Subimperialismus.

⋄ Seine Theorie wurde im Zuge des Scheiterns der neoliberalen, aber auch popular-sozialdemokratischen Systeme in Südamerika wieder aktuell.

Die aktuellen Latin American Perspectives beschäftigen sich in einer Doppelausgabe mit der Dialektik von Abhängigkeits- und Entwicklungstheorien. Sie stellen den Kampf um das Framing der Politik als einen Klassenkampf dar, indem die Bourgeoisie unter dem Label „Entwicklung“ durch kapitalistische Öffnung eine Annäherung an den Lebensstandard der westlichen Welt verspricht, während proletarische Organisationen gerade in der „Abhängigkeit“ vom Weltmarkt einen Angriff auf Arbeiter*innenrechte erblicken. Allen Autor*innen gemeinsam ist der Bezug auf einen Namen: Ruy Mauro Marini, der selbst 16 Jahre lang für das Journal arbeitete. In diesem Artikel sollen Leben und Werk Marinis unter der Frage vorgestellt werden, warum ausgerechnet er heute in der neomarxistischen Debatte in Lateinamerika eine so bedeutende Rolle spielt.

Das Framework des heutigen Lateinamerikas

Die Wiederentdeckung Marinis resultiert aus einer doppelten politischen Krise in Südamerika. Zum einen ist der Neoliberalismus mit seinem Versprechen auf nachholende Entwicklung gescheitert. Gleichzeitig zeigten sich die popularen sozialdemokratischen Regime in Bolivien, Venezuela oder Brasilien nicht stabil genug, um dem Klassenkampf von oben dauerhaft Paroli zu bieten und die Prosperität der werktätigen Klassen gegen den Weltmarkt zu gewährleisten.

Mit den beiden politischen Großprojekten gerieten auch ihre ideologischen Grundlagen ins Wanken.

Die Ideologie der „Entwicklung“ geht davon, dass „unterentwickelte“ Länder einen linearen Prozess hin zu einer entfalteten prosperierenden Marktwirtschaft einschlagen würden, der ab einer Take-Off-Phase selbstständig verlaufe. Der Stand der Entwicklung wird dabei mit Parametern kapitalistischer Wirtschaftssysteme gemessen, wodurch Entwicklung ein rein marktwirtschaftlich geframter Begriff wird. Die Ideologie der „Abhängigkeit“ hingegen erkannte, dass der politische Spielraum lateinamerikanischer Systeme durch den Weltmarkt stark eingeschränkt wurde. Daraus entwickelte sich die Vorstellung einer sozialdemokratischen Autarkie, die gleichzeitig Industrialisierungsprozesse eigenständig in Gang zu bringen und die Massen an steigendem Wohlstand zu beteiligen versuchte, ohne jedoch prinzipiell mit kapitalistischer Wertrechnung zu brechen.

Ruy Mauro Marini steht in diesem Kontrast für die Auflösung des Widerspruchs Öffnung – Autarkie im Sinne einer marxistischen Interpretation der Abhängigkeit. Diese Auflösung könne dazu beitragen, die Prozesse, die hinter dem Scheitern der neoliberalen und sozialistischen Entwicklungsversuche stehen, genauer zu analysieren und eine adäquate Kritik, sowie Gegenstrategien zu formulieren.

Zur Biographie Marinis

Ruy Mauro Marini wurde in einer kleinen Provinzhauptstadt im Südosten Brasiliens geboren und zog nach Rio de Janeiro, um zunächst Medizin, dann Jura und letztendlich öffentliche Verwaltung zu studieren. Während eines zeitweiligen Aufenthalts in Paris kam er mit der Lektüre von Marx und Lenin in Kontakt. In dieser Zeit politisierte er sich im Rahmen der Student*innenbewegung und wurde Mitglied der Politica Operaria, einer linken Oppositionsgruppe, die sich gegen den zentristischen Kurs der Kommunistischen Partei Brasiliens wandte. Nach seinem Abschluss erhielt er eine Stelle an der Universität von Brasilia, wo er zusammen mit Theotonio dos Santos und Vania Bambirra seine eigene Interpretation einer Abhängigkeitstheorie entwickelte. Diese wandte sich insbesondere gegen die Entwicklungstheorie der ECLA, der Ökonomischen Kommission für Lateinamerika der Vereinten Nationen. 1965 wurde er von der Militärregierung Brasiliens für sechs Monate inhaftiert und exilierte nach seiner Entlassung nach Mexiko. Ab 1971 konnte er in Chile bis zum Putsch gegen die Regierung Allende als Universitätsprofessor dozieren. Danach kehrte er nach Mexiko und in den 80ern in seine Heimat nach Brasilien zurück. 1997 verstarb er.

Das Werk Marinis wurde lange Zeit kaum außerhalb Lateinamerikas wahrgenommen. Dabei gilt sein bekanntester Text „Dialéctica de la dependencia“ – „Dialektik der Abhängigkeit“ als einer der Klassiker des zeitgenössischen lateinamerikanischen Denkens. Daneben verfasste er einige revolutionstheoretische Werke und eine vierbändige Geschichte des lateinamerikanischen Sozialtheorie. Marinis Abhängigkeitstheorie hatte in der Praxis wesentlichen Einfluss auf die Sozialistische Partei Chiles, die im Zuge seiner Prognose, dass eine zu langsame Entwicklung zum Sozialismus ein unterentwickeltes Land in die Fänge des Imperialismus führe, ihre Allianzen auf Arbeiter*innenparteien beschränkte, während die Kommunistische Partei das Konzept nationaler Befreiungsfronten vertrat. Darüber hinaus war Marini ein talentierter Netzwerker, der an allen Orten seines Wirkens schnell Einfluss auf eine große Zahl von Student*innen nehmen konnte, die sein theoretisches Erbe weitertrugen.

Grundkonzepte seiner Theorie

Ruy Mauro Marinis Entwicklunsgtheorie vereint verschiedene theoretische Elemente, die sich nicht dem orthodoxen Marxismus zuordnen lassen, jedoch marxistische Methodik zu eigenen machen, um die Widersprüche Lateinamerikas theoretisch zu fassen. Dabei stammen nicht alle Elemente seiner Theorie originär von Marini, sondern es ist die Fassung in einer gemeinsamen Totalität, die sein Werk auszeichnet. Zu den einzelnen Elementen zählen der ungleiche Tausch, die Überausbeutung der Arbeit, der Subimperialismus, die integrierte Bourgeoisie, die antagonistische Kooperation, sowie die Charakterisierung des Staats als Staat der vierten Macht und der Aufstandsbekämpfung.

Marini setzt dabei an drei Marxschen Erkenntnissen an; dem Wertgesetz, der Preisbildung über die Durchschnittsprofitrate und am tendenziellen Fall der Profitrate.

Durch den ungleichen Tausch werde innerhalb des kapitalistischen Weltsystems beständig Wert von peripheren Staaten in die kapitalistischen Zentren transferiert. Dieser Surplusmehrwert in der Zirkulation könne jedoch durch Überausbeutung der Arbeitskraft erwirtschaftet werden, was bedeutet, dass die Lohnarbeit dem Proletariat keine Subsistenz garantiere. Dieses erfährt dadurch im globalen Maßstab eine kulturelle Abwertung. Die Überausbeutung des Proletariats ist langfristig jedoch kein stabiler Zustand. Für die in den Weltmarkt integrierte Bourgeoisie bestünde die Gefahr, dass sich ländliches, wie städtisches Proletariat mit dem ebenfalls marginalisierten Kleinbürgertum gemeinsam organisieren könnten. Daher bestünde für die Bourgeoisie die strategische Möglichkeit – und Marini charakterisiert mit dieser Theorie insbesondere die zwischen 1964 und 1985 herrschende Militärdiktatur in Brasilien – durch ein autoritäres Regime gleichzeitig die Arbeiter*innenorganisationen zu bekämpfen, um die Überausbeutung zu sichern und gleichzeitig das Kleinbürgertum am Konsum partizipieren zu lassen, um es von den Arbeiter*innen zu trennen. Ein so charakterisierter Staatskapitalismus wäre in der Lage eine exportorientierte Industrie aufzubauen, die den oberen Klassen einen moderaten bis hohen Wohlstand garantiere, jedoch von den kapitalistischen Zentren abhängig bliebe. Die wesentliche Macht hierzu sei das Militär, welches als vierte Macht des Staates Aufstände gegen die Überausbeutung niederschlagen könne, aber auch zu bellizistischen Manövern zur Durchsetzung des eigenen imperialistischen Anspruchs eingesetzt werden könne. Unter antagonistischer Kooperation versteht Marini, dass subimperialistische Länder zwar selbst vom Imperialismus in Form der Abhängigkeit betroffen sind, auf Grund einer relativ hohen Entwicklung zu anderen Staaten jedoch selbst imperialistisch auftreten können.

Die politische Konsequenz, welche aus diesem theoretischen Konglomerat folgt, ist, dass sozialistischer Aufbau in einer sehr hohen Geschwindigkeit von statten gehen müsse und Bündnisse zwischen Arbeiter*innenorganisationen und dem Kleinbürgertum sehr labil seien. Ebenso stellt sie heraus, dass Arbeiter*innen von subimperialistischen Bestrebungen keine Verbesserung ihrer Lage zu erhoffen haben, da sich das so zusätzlich akkumulierte Kapital im Konsum der oberen Klassen niederschlage.

Die aktuelle Rezeption

Es ist schon eine spannende Entwicklung, dass ein breites akademisches Klientel infolge des Scheiterns der links-populistischen Versuche ausgerechnet einen Autor wiederentdeckt, der für einen beschleunigten Übergang zum Sozialismus argumentierte. Es wird als sein Verdienst angesehen, kein schematistisches Verständnis von Imperialismus zu haben, sondern auf den politökonomischen Prämissen von Karl Marx zu beharren, um die historische Situation Lateinamerikas in seinen Studien konkret zu fassen. Seine Formulierung des Imperialismus als ein Weltsystem, als ein globales Verhältnis, dessen Dialektik sich aus imperialistischen, aber auch imperialistisch betroffenen Ländern speist und alle darin fesselt, wirkt gerade mit dem Blick auf vermeintliche neue Subimperialismen in Russland, China oder Brasilien schlüssig.

Fernando Prado stellt in einem der Artikel in den Latin American Perspectives über Marini fest, dass Marinis Ideologiekritik die gängigen Ideologien von Entwicklung und Abhängigkeit transzendiere, denaturalisiere und die zu Grunde liegenden Klassenbündnisse aufdecke. Eine Neubeschäftigung mit Marini kann demnach auch nicht einfach seine Analysen wiederholen, sondern muss die neuen Klassenbündnisse hinter dem Neodevelopmentalismus aufdecken und auf ihre Tauglichkeit neuer revolutionärer Klassenbündnisse abklopfen. Es lohnt sich also in die Januar- und April-Ausgaben der Latin American Perspectives zu schauen, um die Aktualisierung der Theorien Marinis zu studieren.

Literatur:

Autor*innenkollektiv (2022): Reassessing Development: Past and Present Marxist Theories of Dependency and Periphery Debates: Part 1. In: Latin American Perspectives. Volume 49 Issue 1.

Marini, Ruy Mauro (1979), »Dialektik der Abhängigkeit«, in: Dieter Senghaas (Hg.), Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt a.M.,
S. 98–136.

Valencia, Adrian Sotelo (2016): Sub-Imperialism revisited. Dependency Theory in the Thought of Ruy Mauro Marini. Leiden, Boston: Brill.

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