Ukrainian History X: The Past in unwritten

⋄ Die herrschende Klasse in den imperialistischen Staaten erzählt, durch die Invasion Russlands in der Ukraine seien alle eigenen imperialistischen Bestrebungen im Nachhinein gerechtfertigt gewesen.

⋄ Diese Argumentation funktioniert jedoch nur, wenn man ältere Quellen und Artikel nicht mehr zu Hand nimmt.

⋄ Volodymyr Ishchenko hat entgegen dieses Trends eine aktuelle Anthologie seiner wichtigsten Artikel zwischen 2014 und 2022 herausgebracht.

Towards the Abyss betrachtet dabei nicht nur die Klassenverhältnisse und ökonomische Widersprüche, sondern geht auch sehr detailliert auf die Rolle der faschistischen Rechten ein.

⋄ Das Buch ist damit interessant für das gesamte Spektrum der Linken und eine Erinnerung, dass der Krieg nicht so hätte kommen müssen.

Mit der bürgerlichen Ideologieproduktion ist es zuweilen ein seltsam Ding. Denn ihr gelingt es manchmal auf zauberhafte Weise, die Wirkung in die Vergangenheit einer Ursache zu projizieren. Weil Russland im Februar 2022 eine militärische Invasion in der Ukraine begann, sei die Erweiterung der NATO seit den 90er Jahren notwendig gewesen, waren faschistische Paramilitärs auf dem Maidan kein Problem war, war Minsk-II eigentlich schon immer beerdigt und die Friedensdividende der letzten drei Jahrzehnte nur Diebstahl an der zukünftigen Verteidigungsfähigkeit der Nation – eine Verteidigung, die natürlich im Roten Meer und im Baltikum beginnt. Eine solche Spiegelverkehrung der Ereignisse gelingt natürlich nicht ohne Ignoranz gegenüber den früheren Quellen und Einschätzungen. So wurde aus Georgien das erste Opfer des russischen „Imperialismus“, obwohl 2008 die einhellige Meinung vorherrschte, dass der georgische Präsident Mikheil Saakashvili den Kaukasuskrieg durch sein eigenes unbedachtes militärisches Vorgehen ohne Not provoziert hat.

Gerade jetzt, wo der Krieg in der Ukraine noch andauert und materialistische Stimmen gegen jene ankämpfen müssen, die alles schon immer gewusst haben, hat Volodymyr Ishchenko ein ganz besonderes Buch herausgebracht. Eine Anthologie vergangener Artikel ist an sich nichts Besonderes. Normalerweise sind die Gegenstände der Artikel aber bereits geronnene Geschichte und politisch irrelevant. Towards the Abyss wird aber in einer Zeit veröffentlicht, in welcher Einschätzungen des Maidan, der Regierung Selenskys und dem Kriegsbeginn immer noch als politische Statements gelesen werden. Ein Buch gegen das Vergessen.

Autor und Buch

Volodymyr Ishchenko wurde in Hoshcha in der Wetsukraine geboren. Seite Eltern forschten zu Sowjetzeiten auf dem Gebiet der Kybernetik und Kosmonautik, während er selbst Soziologie in Kiew lehrte. Seit den 2000ern war er in der relativ kleinen, parteiunabhängigen Neuen Linke der Ukraine aktiv. Unter anderem gründete er das Commons-Journal, dass er bis zu Zerwürfnissen mit der restlichen Redaktion jahrelang mit herausgab. Persönlich wandelte er seine Ansichten vom Anarchismus hin zum Marxismus und einem klassenbasierten Analyseansatz der Gesellschaft. Seine Identität versteht er als gebrochen zwischen der Anerkennung der Fortschritte in der Sowjetukraine und der Notwendigkeit, nicht in Nostalgie zu verharren, sondern unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ein neues breites populares und emanzipatorisches Projekt zu beginnen. Im Rahmen seiner Forschung legte er unter anderem ein Archiv der sozialen Proteste in der Ukraine an. Heute arbeitet Ishchenko an der Freien Universität Berlin und schreibt unter anderem für den Guardian, Jacobin, Al Jazeera oder die New Left Review. Mit dem Maidan fremdelte er und warnte vor dem Einfluss der faschistischen Kräfte. Nach der Invasion Russland in der Ukraine übte er kritische Solidarität mit der Ukraine, während er sich noch im Donbass-Krieg betont neutral positioniert hatte.

Towards the Abyss ist nun eine Sammlung bereits erschienener Artikel zwischen 2014 und 2022. Begleitet werden sie von einem autobiografischen und ideengeschichtlichen Vorwort und einige der Artikel wurden nochmals aus der Gegenwartsperspektive eingeordnet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den innenpolitischen Entwicklungen der Ukraine und weniger auf der geostrategischen Bedeutung. Nationale und ethnische Konflikte werden in der Regel auf ökonomische Ursachen und Klassenwidersprüche zurückgeführt. Aber wie liest sich nun eine solche Anthologie, die aus verschiedenen zeitlichen Perspektiven eine Geschichte des Ukraine-Konflikts formt?

Vor dem Maidan

Volodymyr Ishchenko rahmt die Ereignisse der letzten 10 Jahre in ein ideologisches Dilemma ein, das stark mit dem Schicksal der gesamten postsowjetischen Welt verbunden ist. Die Ukraine war nicht nur bis 1991 nie ein eigenständiges politisches Gebilde. Das wäre für Nationalisten vielleicht noch verkraftbar. Jahrelange Fremdbestimmung ist kein seltener Topos eines Nationalmythos. Vielmehr ist das Problem, dass die Blütezeit der Ukraine ausgerechnet auch in eine Zeit der Fremdbestimmung fällt. Während die Ukraine zunächst technisch rückständig, agrarisch geprägt, kulturell nur wenig vernetzt und höchstens zum Aufmarschfeld von Armeendiente, erlebte die Ukraine ihre ökonomische und kulturelle Spitze in den beiden Jahrzehnten ab 1953. Ukrainische Firmen waren in der Flugzeug- und Raumfahrttechnik mit an der Weltspitze, die Infrastruktur wurde modernisiert und bildete bis zum Krieg noch das Rückgrat der Existenz des Landes. Die regionale Kultur und Sprache genoss weitgehende Freiheiten. Auch nach 1991 sollte das Land an diese Fortschritte nicht mehr anknüpfen können, sondern lebte im Gegenteil von der einstigen sowjetischen Infrastruktur.

Eine ehrliche Rückschau hätte dem ukrainischen Nationalismus also vor Augen führen müssen, dass die Blüte der Ukraine eng mit der Russlands verbunden war. Zu Sowjetzeiten blieb russisch Universitäts- und größtenteils auch Verwaltungssprache und das politische Zentrum der UdSSR verblieb nichtsdestotrotz in Moskau. Mit dem langsamen ökonomischen und politischen Verfall der Sowjetunion, die in ihrer Auflösung 1991 kulminierte, wurde die russische Sprache jedoch zusehends Symbol dieses Niedergangs. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine sprachen die westlich orientierten Eliten englisch, was für Modernisierung und Orientierung am konkurrenzlos übrig gebliebenen Kapitalismus stand. Russisch wurde von diesen Eliten mit Rückständigkeit assoziiert, obwohl die Identitäten für den Großteil des ukrainischen Proletariats multipel blieben.

Ein neuer nationalistischer Staatsgründungsmythos musste also erstens gewaltsam einen Teil der Geschichte unterdrücken, der für einen Teil der Bevölkerung jedoch konstitutiv war. Familiäre Verbindungen, kulturelle und sprachliche Interdependenz und ökonomische Verflechtungen widerstrebten als Erbe der multiehtnischen Sowjetunion der Erzählung eines homogenen ukrainischen Volkes. Ebenfalls musste unterdrückt werden, dass jene positiven Referenzpunkte in der Geschichte, die eine ukrainische Unabhängigkeit und eine antirussische Ausrichtung symbolisierten, durch ihre Kollaboration mit dem Hitlerfaschismus eigentlich moralisch kompromittiert waren. Jene Teile der Bourgeoisie, die also die Härten der Einbindung in den westlichen Neoliberalismus und die Integration einer kaum konkurrenzfähigen ukrainischen Industrie in den europäischen Freimarkt historisch mystifizieren wollten, konnten ihre Bündnispartner nur in der Rechten, nicht in der Linken finden.

Maidan, Putsch und Faschismus

Den Maidan fasst Ishchenko als Teil einer allgemeinen Repräsentationskrise der postsowjetischen Gesellschaft auf. In der Ukraine konnte sich mit Kuchma nur ein einziger Präsident mehr als eine Amtszeit halten, was die permanente Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Ausdruck bringe. Das ausbalancierte System der Oligarchen führte jedoch dazu, dass nach einer jeden Wahl die gleichen Männer an der Macht blieben, wodurch die Drohung mit revolutionären Umbrüchen das einzig demokratische Mittel der Bevölkerung blieb. Dass die Macht in der Ukraine nicht von den Wahlen, sondern von der Straße ausging, blieb dem Westen nicht verborgen, der hier aktive NGOs reichlich förderte.

Dennoch sieht Ishchenko den Maidan nicht als Putsch an. Ein Putsch sei die organisierte Machtübernahme einer militärischen Formation. Der Maidan sei vielmehr eine Revolution ohne revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft gewesen. Er sei weder das Resultat eines immanenten Klassenkonfliktes, noch eines unüberbrückbaren nationalen Widerspruches gewesen, sondern die Ukraine habe sich im Spannungsfeld zweier konkurrierender Machtblöcke befunden, von denen aber im Wesentlichen die EU nicht bereit war, die Zugeständnisse an das Assoziierungsabkommen zu machen, um sowohl die Interessen der westlichen, wie der östlichen Arbeiter*innen zu berücksichtigen. Im Kampf zwischen Maidan und Gegenmaidan habe Recht auf Recht getroffen:

„Just as someone living in western Ukraine with relatives working in Spain, Poland or Italy might hope for deeper Eurointegration and the freedom to work without visas, their counterpart in the east with a job in heavy industry would have a stake in stable and peaceful relations with Russia. These divergent interests are not antagonistic: we are not speaking of class conflict in the true sense, but imperialist and nationalist competition may make them appear mutually exclusive.“

Und bei gleichem Recht entscheidet die Gewalt. Und hier verfügte die Maidanbewegung mit einer international bestens vernetzten und im paramilitärischen Kampf geschulten faschistischen Rechten über eine entscheidende Ressource. Während die Faschisten zwar nie eine Mehrheitsbewegung darstellten, drückten sie den Protesten durch ihre Unabkömmlichkeit Teile ihrer Parolen, ihrer Ideologie und ihrer Forderungen auf. Da sie keine Mehrheiten erringen konnte, musste sie auch in der Folgezeit keine Verantwortung für die arbeiter*innenfeindliche neoliberale Politik übernehmen, sondern konnte sich gleich als Freiwilligenarmee im Krieg gegen den Donbass noch viele Jahre als wahrer Verteidiger des Maidans stilisieren.

Was die Macht der faschistischen Rechten in der Ukraine für Folgen hatte, lässt sich an einem Beispiel deutlich machen. Um gegenüber den westlichen Partnern USA und EU, welche die Minsk-Abkommen damals noch unterstützten, guten Willen zu zeigen, führte Poroschenko eine Schein-Dezentralisierung durch, die in Wirklichkeit die lokalen Behörden nur viel direkter dem Präsidenten unterstellte, weshalb die Reform bei allen Beteiligten wenig Anerkennung genoss. Dem Rechten Sektor und der Svoboda galt jedoch schon dieses Reförmchen als Kapitulation vor Moskau. Ein Mitglied des so genannten Sich-Battalions, einer rechten Freiwilligenarmee, die später zu einer offiziellen Sondereinheit der Polizei in Kiew befördert wurde, warf eine Handgranate in eine dichte Polizeisperrkette, wobei vier frisch eingezogene Nationalgardisten starben und 50 weitere Polizisten verletzt wurden. Bezeichnend war, dass die Politik nicht die Faschisten für deren eigene Tat verantwortlich machte, sondern Russland und die Separatisten. Anhand solcher Beispiele lässt sich zeigen, wie die Faschisten ohne gesellschaftliche und gegen gesellschaftliche Mehrheiten ihr Programm durchsetzen konnten.

Die Vorkriegssituation

Während der Sieg Selenskiys über Poroschenko 2019 als Beweis für die ukrainische Demokratie, in welcher ein Staatsoberhaupt zumindest abgewählt werden könne, präsentiert wurde, war überhaupt erst der Druck der westlichen Verbündeten auf Poroschenko, eine Abwahl überhaupt zuzulassen, ausschlaggebend, für den Erfolg seines Herausforderers. Die Wahl sei auch eine Abwahl der bisherigen Eliten gewesen und nicht die Zustimmung zu irgendeiner Art kohärenten Programms. Ishchenko paraphrasiert mit: „Linke, die Poroschenko wählen haben kein Herz. Linke, die Selensky glauben, haben kein Herz.“ Nicht zuletzt sei es auch bemerkenswert, dass Poroschenko trotz schlechter Umfragewerte an seinem ultranationalistischen Kurs festhielt und damit mehr oder weniger politischen Suizid beging. Überzeugung kann es schwer gewesen sein. Schließlich war Poroschenko Gründungsmitglied und Funktionär von Janukovichs Partei der Regionen. Vielleicht sah er voraus, dass gegen die militante Rechte des Landes keine Politik zu machen war. Jedenfalls gelang es Selenskiy weder, die Korruption einzudämmen, noch das Minsker Abkommen gegen den Willen der Rechten schrittweise umzusetzen.

Die Situation der Nachbarländer war jedoch auch kaum arbeiter*innenfreundlicher. In Belarus scheiterte ein gewaltsamer Aufstand gegen Lukaschenko. Der weißrussische Präsident habe zwar große Teile der Bevölkerung desillusioniert, da seine Leistung, das Land aus der akuten Krise herauszuholen, nun schon mehr als zwei Jahrzehnte zurücklag, Neue Impulse waren nicht zu erwarten. Ihm gelang es jedoch, die Polizei- und Sicherheitskräfte hinreichend gut materiell auszustatten, dass sie anders als in der Ukraine, bereit waren, ihren Dienst zu tun und nicht zu den Protestierenden überzulaufen. Zudem hatte Belarus die eigene Deindustrialisierung zeitig genug aufgehalten, um ein vergleichsweise großes Proletariat in Massengewerkschaften organisieren zu können, die mit dem Staatsapparat vernetzt waren. Damit erwies sich der belarussische Staat als wesentlich tiefer als der ukrainische und große Teile der Bevölkerung präferierten lieber die Ordnung Lukaschnekos als das Chaos des Maidans.

In Russland charakterisierte Ishchenko die herrschende Klasse als politische Bourgeoisie. Innerhalb der 90er Jahre habe sich eine in der Sowjetunion staatstragende Klasse häufig illegalerweise des Volksvermögens bemächtigt, wodurch die Bourgeoisie in Legislative, Judikative und Exekutive ganz personell tief integriert war. Russland teile mit der Ukraine die dadurch entstehende Repräsentationskrise der werktätigen Bevölkerung, aber anders als in der Ukraine, habe sich die Oligarchie zu einem einheitlichen Block formieren können: während der 90er Jahre als Brothers in Crime beim Diebstahl der Volkseigentums und ab 2000 gewaltsam durch Putin. Wie in der Ukraine sei in Russland daher politischer Wandel nicht durch Wahlen, sondern nur durch Massenproteste möglich. Für Putin sei es daher wichtiger gewesen, den Preis der Farbrevolutionen möglichst hoch zu gestalten, anstatt dass er direkte ökonomische oder territoriale Interessen verfolge.

Diese Situation am Vorkriegsabend ließ nach Ishchenko nur drei mögliche Ausgänge zu. Erstens ein Neutralitätsstatus der Ukraine ähnlich einer Finnlandisierung. Im wesentlichen hätte das die Umsetzung von Minsk-II bedeutet, was durch die faschistische Rechte blockiert und durch die EU nicht vorangetrieben wurde. Die zweite Möglichkeit wäre der Umbau der globalen Sicherheitsstruktur als solcher gewesen, in der die EU, die USA, Russland, China und die Ukraine eine gemeinsame neue Struktur hätten schaffen müssen. Dazu war mehr oder weniger niemand so wirklich bereit. Und das dritte Szenario wäre eben der bewaffnete Konflikt auf dem Schlachtfeld der Ukraine gewesen. Da die Donbass-Krise irgendwann hätte gelöst werden müssen, war der Krieg demnach eher eine Frage der Zeit. Das logische Ende aus Sicht der ukrainischen Rechten sieht Ishchenko alleine in der Zerschlagung Russlands in viele kleine Staaten als letzten Garant für die Sicherheit der ukrainischen Interessen, wobei diese übersehe, dass der Großteil der Weltbevölkerung nur wenig Interesse an einer politisch destabilisierten Atommacht habe.

Der Krieg

Jegliche Interpretationen einiger anarchistischer oder sozialdemokratischer Linker, der Krieg könne dauerhaft ein System der Solidarität innerhalb der Bevölkerung schaffen, hält Ishchenko für illusorisch. Die beobachtete Einheit sei sehr natürlich für bedrohte Gesellschaften und verschwinde in der Regel wieder mit dem gemeinsamen Feind. Noch nicht einmal die demographisch ermittelte Zustimmung NATO-Beitritt oder zu Selenskiys Kriegszielen könne man als gesichert ansehen. Erstens nehme die Bevölkerung in den besetzten und den umkämpften nicht an den Umfragen teil. Zweitens sei es eher der regierungs- und kriegskritische Teil der Bevölkerung, der geflohen sei und nicht mehr an den Umfragen teilnehme. Und drittens werde auf die Bevölkerung ein enormer politischer Druck ausgeübt, sich patriotisch zu zeigen. Im Westen spielen die Ukrainer dabei die Rolle als die besseren Westler, nämlich solche, die bereit wären, „unsere Werte“ mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, während in Europa Teile der Bevölkerung noch der Friedensdividende nachtrauerten.

Für die Ukrainer*innen hat sich nun eine Situation ergeben, die faktisch keine multiethnische oder multinationale Definition mehr zulässt. Während sich vor dem Krieg 15% als beides, russisch und ukrainisch definierten, sei dies heute mehr als nur ein politisches Bekenntnis. Es sei eine Frage von Freund oder Feind, Besatzer oder Verteidiger. Als Resümee des Buches könnte man sagen, dass zwischen 2013 und 2024 die Möglichkeit einer multiethnischen, neutralen Ukraine, eines Drehkreuzes zwischen Ost und West und als Keim eines sich friedlich wandelnden globalen Friedensregimes von allen Seiten zu verschiedenen Zeitpunkten ausgeschlagen wurde.

Zusammenfassung

Dass Realitäten gebrochen und Wahrheiten meist grau sind, blieben inhaltslose Phrasen, wenn sie nicht an einem konkreten Gegenstand demonstriert würden. Towards the Abyss lebt Graustufen und Brüche in einer Zeit, in der Schwarz-Weiß-Denken und ideologische Abgeschlossenheit dominieren. Dieses Gut-Böse-Schema ist dabei kein Mangel der bürgerlichen Ideologie ist, sondern bewusst so gewollt. Durch die Ablehnung des dämonisierten anderen, soll die gute eigene Nation affirmiert werden, auch wenn man sonst wenig von dieser hat. Die Betrachtung der Graustufen ist damit nicht nur wissenschaftliche Besserwisserei, sondern die Einnahme eines Klassenstandpunktes. Und auch Ishchenkos Kommentare aus der heutigen Zeit, mit welcher die vergangenen Artikel eingeschätzt werden, erschöpft sich nicht in der simplen Evaluation der eigenen Prognosefähigkeit. Vielmehr stecken sie die Potentiale ab, welche in einer vergangenen Situation als reale Möglichkeiten angelegt waren und welche entweder ihrer evolutionären Aufhebung oder ihrer gewaltsamen Entscheidung harrten.

Natürlich kann jede*r marxistische Leser*in den ein oder anderen Mangel finden. Der Begriff des russischen Imperialismus und einer politischen Bourgeoisie ist theoretisch nicht ganz ausgegoren und kann im Lichte der Wiederentdeckung des Begriffs durch die westliche imperialistische Bourgeoisie leicht zu Missverständnissen führen. Und sicher hätte die informierte Leser*in dieses oder jenes Ereignis noch mehr zu würdigen gewünscht. Dennoch ist Towards the Abyss eine gut lesbare, voraussetzungsarme und theoretisch fundierte Rekapitulation der vergangen turbulenten Ereignisse in und um die Ukraine, die wahrscheinlich ein großes Spektrum der Linken ansprechen wird.

Literatur:

Ishchenko, V. (2024): Towards the Abyss. Ukraine from Maidan to War. London, New York: Verso.

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