99% gegen eins, eine für die 99%? Analysen zur Krise des Linkspopulismus

⋄ Viele Zeichen deuten darauf hin, dass Sahra Wagenknecht bald die Linkspartei verlässt, um eine eigene linkspopulistische Wahlalternative zu gründen.

⋄ Der europäische Linkspopulismus steckt jedoch zwölf Jahre nach seiner Entstehung in einer tiefen Krise. Verschiedene Forscher*innen haben sich in den letzten Wochen mit diesem Abstieg auseinandergesetzt.

⋄ Paolo Gerbaudo zeichnet die Entstehung des Linkspopulismus aus den Platzbesetzungen des Jahres 2011 nach.

⋄ Or Dar unterscheidet zwischen klassenbasierten und klassenfokussierten Parteien und problematisierten den gewerkschaftsfernen Klassenkampf.

⋄ Josep Maria Antentas macht am Beispiel der 15-M/Podemos-Bewegung deutlich, dass Zeit ein wesentlicher Faktor ist, um gesellschaftliche Hegemonie zu brechen.
Wagenknecht: berechtigte Hoffnungen oder falsche Versprechungen?

Dass die Linkspartei in Deutschland in einer Krise steckt ist offenkundig. Die Bildung einer linkspopulistischen Wahlalternative durch Sahra Wagenknecht erscheint in absehbarer Zeit als nicht unwahrscheinlich. Die Ankündigung, nicht wieder auf den Listen der LINKE. Für den Bundestag zu kandidieren, wirft jedenfalls seine Schatten voraus. Ein Wähler*innenpotential von annähernd 20% gilt als möglich.

Gesamteuropäisch betrachtet steckt der Linkspopulismus jedoch in einer tiefen Krise. Plattformen wie Podemos oder Syriza leiden unter beständigem Vertrauensverlust, obwohl sich die kapitalistischen Krisen eher verschärft als abgemildert haben. In mehreren wissenschaftlichen Journalen wurde daher in den letzten Wochen versucht, zu analysieren, woran dies liegt. Vielleicht kann man für Deutschland hieraus lernen.

Zum Begriff des Linkspopulismus

In Deutschland wird der Begriff Linkspopulismus häufig abschätzig verwendet, um den bezeichneten Bewegungen zu unterstellen, unterkomplex zu argumentieren und den Leuten einfach nach dem Munde zu reden. Er wird hier im Sinne von Demagogie gebraucht. Linkspopulist*innen selbst erkennen hingegen eine Interessenkonvergenz innerhalb breiter Bevölkerungsschichten, die gegen eine herrschende Elite durchgesetzt werden müsse. Dass progressive Potential des Linkspopulismus besteht im Zusammendenken verschiedenster Unterdrückungserfahrungen – als Mieter, als Frau*, als Schwarze*r, als Arbeiter*in, als queere Person, etc. – in einer gemeinsamen Erzählung.

Gerade unter den Bedingungen eines modernen Rechtsstaates muss er jedoch erklären können, wie diese Herrschaft entgegen den Interessen der Mehrheit überhaupt zu Stande gekommen ist. Hier können natürlich verkürzende Erzählung anschlussfähig sein, wenngleich die Vermittlung natürlich beliebig komplex beschrieben werden kann. Daher sehen auch linksradikale Organisationen diese kritisch.

Die Wurzeln liegen auf der Straße

In der Capital & Class beschäftigte sich Paolo Gerbaudo mit den Ursprüngen der linkspopulistischen Parteien: den Platzbesetzungen seit 2011. Gerbaudo identifiziert drei wesentliche Merkmale populistischer Bewegung: Majoritarismus, der Appell an den gesunden Menschenverstand und die Verbindung von sozialer und nationaler Symbolik. Dies beschreibt er als Ausbruchsversuch aus der Selbstghettoisierung, in welche die Linke nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfallen sei. Das Jahr 2011 sei das Jahr der Renaissance der Linken gewesen, kurz nachdem die Finanzkrise dem Neoliberalismus eine Schockkur verpasst hatte. In Ägypten brach der arabische Frühling aus, als Massenproteste den langjährigen Präsidenten Mubaraks zum Rücktritt zwangen. Das Motiv der Platzbesetzungen wurde zum Exportschlager. Die 15-M-Bewegung besetzte monatelang der Puerta de Sol in Madrid, um gegen Wohnungsnot und Jugendarbeitslosigkeit zu protestieren. In Athen besetzten Austeritätsgegner*innen den Syntagma-Platz. Und Ende des Jahres brachte Occupy Wallstreet die Protestform in den anglophonen Raum. 2013 wurde der Taksim-Platz in Istanbul besetzt. Das Ende dieses Protestzyklus setzten die Gelbwestenproteste in Frankreich 2018.

Es ist kaum zu leugnen, dass sich die einzelnen Proteststränge untereinander beeinflussten und somit einer verbindenden Klammer bedurften. Diese sei die Erzählung eines Opposition des Volkes gegen die Herrschenden gewesen. Herrschende und Volk wiederum seien durch den gemeinsamen Nationalstaat verbunden. Jenseits der Theorie eines prinzipiellen Klassenwiderspruchs wurde Ersteren vorgeworfen, einen gemeinsamen Gesellschaftsvertrag verletzt zu haben, was solange Proteste – inklusive extralegaler Mittel – rechtfertige, bis dieser wieder hergestellt werde. Der Unterschied zur vorangegangenen Antiglobalisierungsbewegung sei, dass diese sich eher als minoritär und gegenkulturell verortete, während die neuen Proteste im Namen der Mehrheit zu sprechen wagten.

Dieses Konzept zeigte sich in Wachstumsphasen erfolgreich, aber es stieß an Grenzen. Der Kapitalismus mystifiziert und fetischisiert die sozialen Beziehungen bis ins intimste Privatleben. Unterschiedliche Klassen und Klassenfraktionen legen sich individuelle Selbstkonzepte zurecht, welche die Existenz weniger fremdbestimmt und trostlos erscheinen lassen. Diese hindern jedoch populare Bewegungen daran, soziale Lagen unmittelbar in politische Forderungen zu übersetzen. Wohnungsnot kann auch auf Geflüchtete oder strenge Bauauflagen durch Umweltbewegung zurückgeführt werden.

Der Aufbau eines Klassenbewusstseins lässt sich doch nicht so leicht abkürzen. Und diese Schwäche wusste die politische Rechte zu spielen, indem zum Beispiel Trump eine populare Bewegung für das Kapital initiierte. Die Inklusivität der Majoritarismus musste scheitern oder in Beliebigkeit versanden. Die Referenz auf das Nationale wurde entweder Phrase oder suchte sich ein Ausgrenzungsobjekt. Der Appell an den gesunden Menschenverstand wurde als Opportunismus gegenüber dem Status Quo ausgelegt (AfD: „Deutschland, aber normal!“). Man muss dazu sagen, dass nicht die Infiltration der Bewegungen durch die Rechte ein reales Problem darstellte, sondern gerade die Übernahme erfolgreicher Strategien und die äußere Zersetzung. So liegt das Jahrzehnt der populistischen Bewegungen hinter uns, aber die Linke steht noch immer dort, wo sie zur Jahrtausendwende stand.

Klassenbasis und Klassenfokussierung

Ebenfalls in der Februarausgabe der Capital & Class analysierte Or Dar aus Tel Aviv die Bedeutung des Populismus für radikal linke Parteien und führte dazu 40 Interviews mit Beteiligten aus allen Teilen linkspopulistischer Bewegungen. Seine Kernthese lautet: Linksradikale Parteien hätten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von klassenbasierten zu klassenfokussierten Parteien entwickelt. Dies liege darin begründet, dass die Gewerkschaften sich eher an Sozialpartnerschaften mit den Arbeitgebern orientiert hätten und gerade die prekarisierten Klassen nie wirklich im formell oder informell organisierten Proletariat angekommen wären. Radikale linke Parteien hätten somit Strategien für nichtgewerkschaftliche Klassenkämpfe entwickeln müssen (non-union-based class struggle NUBCS) und populistische Bewegungen schienen als Methode, um die sehr differenzierten Interessenlagen miteinander zu vereinen. Die Sammlung der vielen atomisierten Gruppen hinter einer charismatischen Person oder Organisation hätte der Linken damals geholfen, wenigstens einen Teil bisher ungehörter Forderungen zu artikulieren.

Diese NUBCS seien an gewisse Bedingungen geknüpft. Erstens bräuchte es einen Anlass, einen Funken, um spontane Aufstände zu entfachen. Zweitens könne der Protest nur innerhalb eines bürgerlichen Ideologie stattfinden, da nur der Appell an die Staatsmacht alle heterogenen Interessen vereinigen könne. Drittens müssten die am besten organisierten Teile der Subalternen eine Avantgardeposition einnehmen.

Jedoch bildeten die atomisierten Subalternen noch lange kein stabiles soziales Feld. Und das hatte einige Nachteile. In der Organisation einer Klasse-für-sich spiegelt die politische Macht nur die soziale Macht wieder, die eine Klasse besitzt. Wenn die radikale Linke also vor 2008 schwach war, dann war das Ausdruck des niedrigen Klassenbewusstseins. Um dieses zu heben, bedürfe es allerdings nicht nur spontaner Aktion, die notwendigerweise nicht über Appelle an den Staat hinauskäme, sondern konstanter Bildungsarbeit, die nur in festen sozialen Gefügen möglich sei. Da die alten Arbeiter*innenparteien die populistischen Bewegungen allerdings nicht als Teil der eigenen Bewegung verstanden, blieben sie aus diesen exkludiert und gründeten eigene Parteien, die dann wiederum an den Herrschaftssystemen in den einzelnen Nationalstaaten litten. In Großbritannien gingen die Populist*innen in Labour auf, trafen dort aber auf eine festgefügte Parteielite. In Frankreich erwies sich das starke Präsidialsystem als Hindernis, in dem Linke und Rechte jeweils immer in der Mitte das kleinere Übel suchten. In Spanien spaltete man sich über die Baskenfrage. In Griechenland fehlte es an einer internationalen Bewegung, sodass man sich von der Troika erpressen lassen musste. Zusammenfassend kann man sagen, dass allen linkspopulistischen Bewegungen die Klassenverwurzelung fehlte und sie keine Konzepte fanden, sich in der Arbeiter*innenklasse zu verwurzeln.

Das Fallbeispiel Indignados/ Podemos

Im Journal of Iberian and Latin American Research beleuchtete Josep Maria Antentas die 15-M/Podemos-Bewegung aus einer gramscianischen Perspektive. Der bis heute bekannteste Aspekt der Theorie Antonio Gramscis ist sein Hegemoniekonzept, nach dem die herrschende Klasse nicht allein durch nackte Gewalt herrscht, sondern durch ideologische Instanzen einen gesellschaftlichen Konsens erzwingt. In Spanien wurde dieser Konsens wie kaum in einem anderen Land durch das Parteiensystem repräsentiert, das sich während des Übergangs von der Franco-Diktatur zu einer bürgerlichen Demokratie herausgebildet hatte. Dieser Konsens wurde durch die Finanzkrise 2008, die anschließende Austeritätspolitik und die Protestwelle 2011 offensichtlich erschüttert. Die Frage wäre jedoch, ob diese Erschütterung systemischer oder konjunktureller Natur gewesen sei und ob die hegemoniale Struktur durch eine Alternative abgelöst hätte werden können.

Antentas sieht die 15-M-Bewegung im Kontext der Subalternitätstheorie Gramscis an. Als Beleg zieht er den politischen Charakter der Bewegung heran, der zwar partikulare Interessengruppen an einen Ort zusammenbrachte, jedoch kein politisches Subjekt formen konnte. Dies drücke sich insbesondere in der ideologischen Widersprüchlichkeit der Indignados aus, die einerseits den Staat als Adressaten ihres Protestes bestimmten, auf der anderen Seite jedoch autonome Sammlungsprozesse in Gang setzen wollten. Subalterne seien nach Gramsci jedoch der Konjunktur der herrschenden Klassen unterworfen und könnten in ihrer Vereinzelung Geschichte nicht selbst bestimmen.

Dies entging der 15-M-Bewegung keinesfalls und sie initiierte daher die Gründung von Podemos, um eine makropolitische Basis für die mikropolitischen Prozesse zu schaffen. Dieser – in Gramscis Worten – kathartische Moment eröffnete zwar auf der einen Seite die Möglichkeit, einen historischen Block und politische Subjektivität zu schaffen. Dieser Transformationsprozess barg jedoch wiederum Gefahren. Zum einen verlor die heterogene Bewegung angesichts der Richtungsentscheidungen einen Teil ihrer sozialen Basis, auf der anderen Seite drohte der bürokratische Zentralismus und die Personenorientierung um Pablo Iglesias einen Teil des ohnehin schon abgeschwächten Moments abzugraben. Podemos brach zwar das alte Parteiensystem auf. Aus den Bruchstellen wuchsen aber auch rechtsradikale Parteien wie die Vox. Podemos ist nicht direkt gescheitert, sondern durchlebte eine progressive Normalisierung bis hin zum Eintritt in die Regierung unter der sozialdemokratischen PSOE.

Für Podemos gibt es nach Antentas zwei Zukunftsszenarien: Entweder ist der historische Krisenzyklus noch nicht vorbei, dann ist Podemos als Basis für neue Proteste ein möglicher Kristallisationskern für den Klassenkampf auf höherer Stufenleiter. Sollte der mit 2011 begonnene Krisenzyklus jedoch vorbei sein, hat 15-M/ Podemos vielleicht eine wichtige Chance verspielt, auch wenn die Karten durch die Geschichte unfair verteilt wurden.

Zusammenfassung

Schaut man sich alle drei Analysen an, dann lässt sich folgende Gemeinsamkeit herauskristallisieren: Linkspopulistische Bewegungen sind nicht moralisch zu verurteilen, sondern besitzen die Möglichkeit, verschiedenste Interessen in einer gemeinsamen Bewegung zu artikulieren, insbesondere dann, wenn die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften für die Kernbelegschaften sozialpartnerschaftlichen Ausgleich auf Kosten der Subalternen suchen. Allerdings sind die linkspopulistischen Bewegungen anlassgebunden und können nicht auf eine solide Klassenbasis vertrauen. Daher sind sie vom Wechselspiel der Kräfteverhältnisse abhängig und können sich nur unter sehr günstigen Bedingungen (schwache rechte Parteien, dauerhafte Krise, geringe innere Widersprüchlichkeit) als klassenbildende Institutionen festigen. In der Regel fehlt ihnen aber die notwendige Struktur, um die Klassenbildungsprozesse in Gang zu setzen, die notwendig wären, um eine eigenständige, nicht rein appellierende, Politik betreiben zu können.

Das ist auch kein guter Ausblick für eine Wagenknecht-Partei, auch wenn oder genau weil die Voraussetzungen idealtypisch erscheinen. Es gibt einen Anlass: den Ukraine-Krieg. Verschiedene Klassenfraktionen werden durch eine charismatische Person zusammengebracht. Es gibt eine Überschneidung von ansonsten widersprüchlichen Interessen. Pazifist*innen sehen im Frieden einen Selbstwert. Bürgerliche und kleinbürgerliche Fraktionen erhoffen sich erneut Zugriff auf günstige Rohstoffe. Prekarisierte Menschen leiden unter der Inflation. Dazu teilen viele gegenkulturell geprägte Gruppen nicht das herrschende Narrativ über die moralische Bewertung des Ukraine-Kriegs. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass der Ukraine-Krieg tatsächlich solange dauert, dass er die bindende Klammer einer Partei werden kann. Eine Wagenknecht-Partei wäre weder klassenbasiert, noch klassenfokussiert. Sie würde aber der Linkspartei den Todesstoß versetzen, die seit zwei Jahrzehnten immerhin versucht ein stabiles Milieu innerhalb der Arbeiter*innenklasse zu etablieren, während kommunistische Parteien in Deutschland noch nicht an den Vereinigungsprozessen arbeiten, um der Linkspartei eine fundamentale Alternative entgegenzusetzen. Eine Wagenknecht-Partei wäre auch sehr up to down entstanden und besäße weder funktionierende Strukturen noch einen Stamm an verlässlichem Personal. Ihr verbliebe die Perspektive, bei der Bundestagswahl ein zweistelliges Ergebnis einzufahren, als Bürger*innenschreck den Königsmacher der Rechten zu spielen, um in fünf Jahren wieder verschwunden oder eine etablierte All-inclusive-Partei zu sein. Wenn der Krieg nicht noch zehn Jahre andauert.

Literatur:

Antentas, J. M. (2023): The 15M, Podemos and the Long Crisis in Spain: Gramscian Perspectives. In: Journal of Iberian and Latin American Research, DOI: 10.1080/13260219.2022.2170733.

Dar, O. (2023): The benefits and limitations of populism for radical-left parties. In: Capital & Class. Online First. DOI: 10.1177/03098168231153348.

Gerbaudo, P. (2023): From Occupy Wall Street to the Gilets Jaunes: On the populist turn in the protest movements of the 2010s. In: Capital & Class. Jahrgang 47. Ausgabe 1. S.107–124.





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