⋄ Nicht nur in der marxistischen Forschung wird Klassenanalyse betrieben, auch bürgerliche Wissenschaftler*innen interessieren sich aus verschiedenen Gründen für die Zusammensetzung der Gesellschaft aus Klassen. ⋄ Die Unterscheidung nach funktionalenEinkommen – Lohn, Profit oder Rente – ist dabei eine etablierteMethode. ⋄ Marta Fana und Davide Villani und habendie Ansatz mit einigen anderen Ansätzen kombiniert, umSchwachstellen zu beheben. ⋄ In einer Untersuchung der italienischenGesellschaft konnten sie eine Proletarisierung der Gesellschaft undeine Zentralisation des Reichtums feststellen. ⋄ Sie zeigten auch, dass sichverschiedene Klassenmodelle in vielen grundlegenden Fragen nurgernigfügig unterscheiden. |
Vor 20 Jahren galt der Begriff der Klasse als ausgestorben. Kapitalistische Gesellschaften versprachen soziale Mobilität und materiellen Wohlstand und das mittel- und rechtlose Proletariat wurde als ein überwundenes Relikt des 19. Jahrhunderts betrachtet. Die Feststellung, dass die Ungleichheit durch den Neoliberalismus jedoch nicht kleiner wurde, sondern durch das Platzen der Finanz- und Immobilienblasen Ende der 2000er Jahre stark zunahm, führte zu einer Neuentdeckung der Klasse. Vielfach wurde er jedoch nicht mehr marxistisch-funktional als Besitz oder Nichtbesitz der Mittel der Produktion und Reproduktion verstanden, sondern schnell bildeten sich deskriptive Ansätze heraus, die Klasse zu einer Frage der Sprache, des Geschmacks und häufig auch der Bildung reduzierten.
Doch selbst im Marxismus ist umstritten, wie genau sich Klasse definiert. Das Kapitel über die Klassen am Ende des dritten Kapitalbandes blieb unvollendet. Die Frage, inwiefern etwa die Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven Arbeiter*innen eine reale Rolle spielt, ist eine der klassischen Debatten des Marxismus. Marta Fana und Davide Villani fertigten eine Klassenanalyse Italiens über das funktionale Einkommen an.
Klassenanalyse über das funktionale Einkommen
Klassenanalyse wird in Deutschland in der Regel mit einer marxistischen Herangehensweise in Verbindung gebracht. Tatsächlich wird sie aber nach verschiedensten Methoden auch in der bürgerlichen und heterodoxen Ökonomik betrieben, etwa um Wachstumsmöglichkeiten und Nachfrageprobleme analysieren zu können. Daneben spielt sie aber auch bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der politischen Formationen, der Verschuldung privater Haushalte oder der Finanzialisierung eine Rolle. Es stehen also nicht nur für Marxist*innen knallharte politische und ökonomische Interessen hinter einer Klassenanalyse, die real wirksame gesellschaftliche Mechanismen erklären kann.
Eine wohl intuitivsten Methoden zur Bestimmung der Klassenposition eines Individuums ist wahrscheinlich die über das Einkommen oder wie Marx es nennt, die Revenue. Mit Bezug auf das Kapital liegt dies nahe, weil Marx die Revenuen und ihren Zusammenhang mit der Ausbeutung der Arbeitskraft in der Mitte des dritten Bandes vornahm, also sehr nah am Kapitel zu den Klassen. Hierbei sind zwei Herangehensweisen zu unterscheiden. Zum einen kann man über die Revenuehöhe gehen. Man legt eine gewisse Höhe fest, aber der das Einkommen nicht mehr durch die Kosten der Reproduktionsmittel bestimmt sind und zieht hier die Trennlinie zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Oder man geht über die Art des Einkommens.
Die Bestimmung der Klassenzugehörigkeit über die Einkommensart geht dabei bereits auf Ricardo und Adam Smith zurück, die Lohn, Profit und Renten als die drei klassischen Einkommensformen einer Volkswirtschaft definierten, wobei erst Marx in seiner berühmten trinitarischen Formel alle drei auf das produktive Lohnarbeitsverhältnis zurückführte.
Probleme und alternative Messmethoden
Dabei tun sich auch einige Probleme auf. Das erste Problem ist, dass in verschiedenen kapitalistischen Akkumulationsregimen viele Individuen ihre Einkommen aus verschiedenen Quellen speisen. So machten in der Alt-BRD über Sparbücher und Staatsanleihen oder im amerikanischen Rentensystem Zinsen einen nicht vernachlässigbaren Teil proletarischer Revenuen aus. Heute verschleiern Einkommen durch Finanzialisierung eigentliche Lohnarbeitsverhältnisse. Umgekehrt verdienen gehobene Managerschichten formal Gehälter, obwohl ihre Einkommen meist stark vom Profit des Unternehmens abhängen und sie real Funktionen der Kapitalistenklasse ausführen.
Auf Grund dieser Probleme wurden natürlich auch immer Alternativen diskutiert. Die Messung des Reichtums scheint zunächst kontraintuitiv für eine marxistische Analyse zu sein, die nach der Funktion der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft fragt. Legt man jedoch zugrunde, dass durch Löhne die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft abgedeckt werden, sämtlicher Lohn also innerhalb einer Reproduktionsperiode aufgebraucht wird, dann deutet akkumulierter Reichtum auf ein Nicht-Lohnarbeitsverhältnis hin. Zudem entbindet Reichtum vom Zwang zur Lohnarbeit und ermöglicht eine verstärkte Teilnahme an Prozessen ökonomischer und politischer Einflussnahme. Problem hier: die Revenue kann auch vollkommen verbraucht werden, ohne damit Reproduktionskosten zu decken, etwa durch den Konsum kurzlebiger Luxusgüter. Inwiefern das die Regel sein dürfte, kann hingegen diskutiert werden.
Andere Modelle unterteilen nicht nach Art der Revenue, sondern nach reiner Höhe. Auch hier ist die Idee dahinter, dass eine bestimmte Einkommenshöhe sich real mehr auf etwa Bewusstseinsprozesse oder politisch-soziale Entscheidungen auswirkt, als die Art der Revenue. Wenn etwa die oberen 1% oder 10% nicht mehr in der Nachfrage abgebildet werden, weil sie mehr Geld haben als sie ausgeben können und es eher produktiv anlegen, dann entsteht ein realistischeres Bild der Kaufkraft einer Gesellschaft. Es gibt weiterhin noch rein funktionalistische Ansätze, die ein Modell funktionaler Beziehungen zugrunde legen und die Individuen nach Funktion in diesem Modell unterscheiden. Das Problem hier ist nicht nur, dass hier fast zwangsläufig die Rohdaten selbst ermittelt werden müssen, sondern auch, dass sich je nach Modell die Klassenposition unterscheiden kann. Es bedarf hier also sehr guter Begründungen für die Wahl des Modells. Zuletzt kann man natürlich noch die Ansätze mischen und sowohl Einkommensart, -höhe und Funktionen gemeinsam erfassen. Die Gefahr hier besteht in einer zu starken Zergliederung der feststellbaren Klassen, sodass hypothetisch bestimmende Faktoren nicht mehr begründet zu ermitteln sind.
Die Methode von Fana und Villani
Aus diesen Erwägungen heraus haben sich Fana & Villani für die Klassenunterscheidung nach funktionaler Einkommensart entschieden, welche sie entsprechend den genannten Problemen modifizierten. Entsprechend den funktionalistischen Erwägungen zählen Manager mit zur Bourgeoisie. Zweitens entbindet großer Reichtum vom Zwang zur Arbeit und wird damit als Rentenquelle betrachtet. Drittens werden die Klassen nach der Haupteinkommensquelle differenziert, was der Tatsache Rechnung trägt, dass im modernen Kapitalismus Individuen häufig mehrere besitzen. Bestimmend bleibt aber die Unterscheidung zwischen Profit, Lohn und Rente. Diese Unterscheidungen differenzieren die Dichotomie zwischen Proletariat und Bourgeoisie nochmals in sieben distinkte Klassen.
Auf der Seite der Bourgeoisie stehen zum einen die traditionellen Kapitalisten, also die Eigentümer eines Betriebes mit hinreichend vielen Arbeiter*innen, um allein vom Mehrwert zu leben und im Unternehmen Kapital zu akkumulieren. Dann gibt es die Manager. Drittens die Rentiers, die entweder durch Immobilien- oder Bodeneigentum, bzw. den Besitz von Finanzmitteln ihre Revenue schöpfen, wobei nur diejenigen dazugezählt werden, deren Rentenhöhe über dem Durchschnittslohn liegt oder die Höhe eines ebenfalls erhaltenen Lohns übersteigt. Die vierte Gruppe sind die Reichen, die zum einen zu den Top-10% wohlhabenden Menschen gehören und auf der anderen Seite aber von keiner anderen Gruppe abgedeckt werden. Und als letzte Klasse werden das bestverdienendste Drittel der Selbstständigen zu den Kapitalisten gezählt. Diese Klasse beruht auf der Erwägung, dass ein überdurchschnittlich gut verdienender Selbstständiger seine Arbeitskraft eben nicht mit dem Markt vergleicht, sondern entweder über eine Monopolstellung verfügt, die besser durch den Monopolrentenbegriff abgedeckt ist oder zusätzliche Arbeiter beschäftigt, deren Mehrwert sozusagen in das eigene Arbeitseinkommen des Selbstständigen mit addiert wird.
Vis-vis werden zu den Arbeiter*innen nicht nur die Lohnabhängigen gezählt, sondern auch die unteren zwei Drittel der selbstständig beschäftigten, was zum einen der zunehmenden Irregularität von Lohnarbeitsverhältnissen Rechnung trägt, zum anderen aber auch der Tatsache, dass diese Menschen ihre Arbeitskraft nicht weniger abstrakt vergleichen müssen als Arbeiter*innen. Etwas anders als im traditionellen Marxismus wird nicht in unproduktive und produktive oder industrielle und nicht-industrielle Proletarier unterschieden. Das hängt damit zusammen, dass die erste Unterscheidung nur wichtig für Fragen des Reproduktionsmechanismus einer Gesellschaft und letzterer die These zugrunde liegt, dass eine industriell disziplinierte Arbeiter*innenschaft eher zu einem großflächigen planvollen Handeln in der Revolution imstande ist, als fragmentiertere Klassen. Das sind aber jeweils keine Aspekte, die Fana und Villani interessieren.
Die Ergebnisse
Aber was interessiert nun die beiden Autoren eigentlich mit ihrem Klassenmodell? Zunächst einmal nahmen sie sich die Umfrage der Bank von Italien zur Haushaltseinkommen und Reichtum zur Hand. Für den Zeitraum zwischen 1991 und 2016 wurden hier die Einkommensquellen in einer Art und Weise aufgeschlüsselt, welche die Autoren auch nutzen konnten. Entsprechend den beschriebenen Überlegungen konnte dann die Größe der Klassen und der Anteil von Löhnen, Profiten und Renten am Gesamteinkommen ermittelt werden.
Das erste Ergebnis war, dass der Lohnanteil an allen Einkommen im Vergleich zu anderen bürgerlichen Untersuchungen um 2-7% geringer war. Zweitens ist der Anteil der Arbeiter*innen von 1991 bis 2016 von 75% auf 80% gewachsen, während der Anteil Selbstständiger in ähnlichem Maße zurückgegangen ist. Dieser Trend erinnert stark an die Prognose des Kommunistischen Manifestes, dass die Spaltung der Gesellschaft in Proletariat und Bourgeoisie zunehmen wird. Ein sehr interessanter Punkt ist, dass die Einkommen sowohl des Proletariats als auch der Bourgeoisie im Vergleich zum Bruttosozialprodukt gesunken sind. Das bestätigt ebenfalls den Trend zur relativen Verarmung kapitalistischer Gesellschaften, in denen der Anteil der Konsumkraft im Vergleich zum akkumulierten Kapital mit steigender organischer Zusammensetzung sinkt. Natürlich sind hiervon nicht beide Klassen gleichermaßen betroffen. Für die Bourgeoisie ist nicht der persönliche Reichtum das Mittel der Herrschaft, sondern der im produktiven Kapital vergegenständlichte. Dabei nahm die absolute Zahl der Kapitalisten ab, was eine Bestätigung der Zentralisationsthese darstellt.
Ein weiteres Ergebnis ist, dass es abseits von einer leichten Proletarisierung kaum Veränderungen in den Revenuequellen der einzelnen Mitglieder gibt. Wer 1991 lohnabhängig war, war dies sehr wahrscheinlich auch 2016. Wer 1991 von Zinsen lebte, tat dies allen Finanzkrisen und Börsenschwankungen zum Trotz auch ein Vierteljahrhundert später. Allerdings sank der Anteil von Zinserträgen von Arbeiter*innen als Nebeneinkommen kontinuierlich mit dem Fall des Leitzinses für Staatsanleihen. Damit ist der Anteil am Zinseinkommen 2016 geringer gewesen als 1991, wovon jedoch eben die Haushalte betroffen waren, die in den 90er Jahren auf einem konservativen Sparbuch gespart haben. Mit dieser Entwicklung lässt sich auch erklären, warum sich die Vermögen weit ungleicher entwickelt haben als die Einkommen. Passive Einkommen von Proletariern haben abgenommen, während aktive Vermieter und Finanzspekulanten weit höhere Renten erzielten. Die Bedeutung des sekundären Einkommens hat also für die meisten Werktätigen entgegen der Prognosen der Wirtschaftsforscher und den Apologeten privater Altersvorsorge abgenommen.
Unterschiede zwischen den Klassenmodellen
Abschließend haben die Autoren die Frage gestellt, inwiefern eine Veränderung der Klassendefinition zu anderen Ergebnissen führt. Vier alternative Szenarien wurden hierfür untersucht. Einmal wurden öffentliche Leitungsfunktionen, wie Schuldirektoren oder gehobenes Personal bei der Bahn aus der Kapitalistenklasse herausgerechnet (1). Zweitens wurden nicht die reichsten 10%, sondern nur die reichsten 5% zu den Kapitalisten gezählt (2). Drittens wurde der rein statistische Ansatz gewählt, dass das einkommensstärkste 1% als Kapitalisten definiert (3) und viertens die einkommensstärksten 5% (4).
Bis auf den Ansatz (4) stieg der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen. Das ist klar, da bei (1) nun auch gut bezahlte Manager mitgezählt werden, bei (2) weniger Menschen als vom Reichtum lebend definiert werden und bei (4) durch die Neudefinition viele gut verdienende Menschen nun der Arbeiter*innenklasse zugerechnet werden. Tatsächlich haben sich jedoch hiervon abgesehen die beschriebenen Muster bestätigt. Das zeigt, dass im Wesentlichen der Besitz von Eigentum, hohe Einkommen und hoher Reichtum stark miteinander korrelieren, während die Entwicklungen im Wesentlichen durch das Auseinanderdriften der zweifellos proletarischen Haushalte und der zweifellos bourgeoisen bestimmt wird.
Zusammenfassung
Italien war lange Zeit neben Japan das westliche Land mit dem höchsten Anteil selbstständiger Handwerker, Bauern, Gastronomen und sonstiger Kleinbürger. Die funktionale Einkommensanalyse von Fana und Villani zeigt, dass dieses Bild einer viel stärker proletarischen Gesellschaft weicht. Das ist insofern spannend, als dass die politische Landschaft Italiens sich seit den 1980er Jahren eher depolarisiert hat. War die Kommunistische Partei Italiens neben der Democracia Cristiana einst die stärkste, so dominieren heute liberale, rechtspopulistische und faschistische Parteien das Land. Vielleicht kann man sagen, dass umso mehr Menschen Arbeiter*innen werden, das Proletariat selbst spontan seinen habituell und politisch eigenständigen Charakter verliert. Wenn alle Arbeiter*innen werden, gibt es nichts mehr wogegen sich die Arbeiter*innenschaft abgrenzt. Allerdings sollte die materialistische Wette sein, dass sich die objektiv vorliegenden Klasseninteressen über lange Zeit auch wieder politisch organisieren müssen und dass wir momentan in Italien nur eine revisionistische Momentaufnahme erleben. Der spannendste Punkt der vorliegenden Analyse scheint jedoch der zu sein, dass Klassenmodelle ohne eine genaue Fragestellung, über die sie Auskunft geben sollen, am Ende wenig aussagekräftig und beliebig sind. Anders lässt sich sonst die ähnliche Aussagekraft sehr unterschiedlicher Ansätze kaum erklären.
Literatur:
Fana, M. & Villani, D. (2024): A Contemporary Perspective on Social Classes and functional Income Distribution. In: Review of Political Economy. Online First. DOI: 10.1080/09538259.2024.2397671.