Profite ohne Ausbeutung?

⋄ Mit seiner trinitarischen Formel erklärte Karl Marx, warum Arbeit, Kapital und Boden nicht verschiedene Quellen des Werts sind, sondern nur unterschiedliche Formen der Verteilung des durch Arbeit geschaffenen Werts.

⋄ Um die Krisenbeständigkeit des Kapitalismus zu erklären, wurde diese Behauptung zunehmend durch Marxist*innen kritisiert und relativiert.

⋄ Alper Duman und E. Ahmet Tonak wollten nun in der
Review of Radical Political Economics wissen, wie groß denn der Anteil
nicht aus Ausbeutung beruhender Profite an der Gesamtproftmasse ist..

⋄ Dazu untersuchten sie mit der Türkei ein Land, in dem diese zusätzlichen Profite auf Grund der ökonomischen Struktur besonders hoch sein sollten.

⋄ Sie ermittelten mit dem Theorem der Profits on Alienation von Anwar Shaik zusätzliche Profite in Höhe von 9% am gesamten industriellen Profit seit 2010.

Die Vorstellung, dass Kapital, Boden und Arbeit drei unterschiedliche Quellen des Werts seien, die in richtiger Kombination zum gesellschaftlichen Optimum führten, hat sich bis heute in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre gehalten. Marx spottete über diese Vorstellung, indem er sie mit dem Begriff der trinitarischen Formel in die Nähe des religiösen Aberglaubens rückte. Er wies nach, „daß das Kapital dem Kapitalisten einen Teil des Mehrwerts, den er aus der Arbeit extrahiert, in der Form des Profits, das Monopol an der Erde dem Grundeigentümer einen andern Teil in der Form der Rente attrahiert und die Arbeit dem Arbeiter den letzten noch disponiblen Wertteil in der Form des Arbeitslohns zuschlägt“ (MEW 25, S.834). Produktionsmittel, Boden und Arbeit seien nur verschiedene Formen des in der Distributionssphäre verteilten und vom Proletariat erarbeiteten Werts, dessen Mehrwert sich von den Kapitalisten und Rentiers angeeignet wird. Oder anders gesagt: Jeder Zinspunkt auf einen Kredit und jeder Euro Wert eines Bodens beruhen allesamt auf der Ausbeutung der Arbeiter*innen.

Was Marx vor 150 Jahren so klar schrieb, ist in den letzten Jahrzehnten von Marxist*innen wieder angezweifelt worden. Angesichts der Tatsache, dass der Kapitalismus bisher jede Krise überlebt hat, suchten sie nach den Mechanismen hinter der Krisenbewältigung und fanden im Anschluss an Rosa Luxemburg die Kommodifizierung bisher unproduktiven Landes als einen bedeutenden Puffer. Klaus Dörre prägte im deutschen Raum hierfür den Begriff der kapitalistischen Landnahme. David Harvey erklärte die Accumulation by Dispossession (Näheres hier) sogar zur momentan dominanten Quelle des Profits. Und Anwar Shaikh brachte bereits 1986 den Begriff der Profits on Alienation in die Debatte ein. Alper Duman und E. Ahmet Tonak von den Universitäten in Izmir und Northhampton, MA wollten nun in der Review of Radical Political Economics wissen, wie groß denn der Anteil solcher Profite auf privatisiertes Land an der Gesamtproftmasse ist. Sie untersuchten hierfür das Fallbeispiel Türkei.

Profits on Alienation

In seinem Buch New Palgrave: A Dictionary of Economic Theory and Doctrine erklärte Anwar Shaik, dass neben dem Profit durch die Ausbeutung der Arbeitskraft noch eine zweite Form des Profits bestünde, nämlich Profite durch Enteignung oder Entfremdung. Damit wollte er erklären, warum sich die Gesamtmasse des Mehrwerts von der Gesamtmasse des Profits unterscheide, auf deren Gleichheit viele Transformationsprozeduren von Werten in Preise beruhten. Die Profite durch Ausbeutung beruhen dabei zunächst auf einem äquivalenten Tausch. Die Ware Arbeitskraft werde von Arbeiter*innen zu ihrem Preis – dem Preis der Mittel für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft – verkauft und der Kapitalist erhalte dafür ihre Eigenschaft, mehr Wert zu erzeugen, als zur Reproduktion notwendig ist. Allerdings kann sich der Kapitalist den Profit nicht einfach komplett einbehalten. Häufig gehört ihm nicht der Boden, auf dem die Fabrik steht, sodass er Bodenrente an den Bodenbesitzer zahlen muss. Hat er sich Geld geliehen, muss er den Finanzkapitalisten Zinsen zahlen. Und da der Kapitalist häufig nicht selbst die Kosten für die langfristige Reproduktion der Ware Arbeitskraft (Versorgung von Kindern, Alten und Kranken, Ausbildung, …) oder die Zirkulationskosten (Infrastruktur, Straßen- und Schienennetz, …) alleine trägt, tritt er diese in Form von Steuern oder anderen Abgaben an den unproduktiven Sektor ab. Diese Bifurkation des Mehrwerts habe die Arbeit als einzige Quelle des Werts nach Marx verschleiert.

Anwar Shaikh sah daneben jedoch noch eine zweite Möglichkeit, Profite zu machen: die Profits on Alienation. Diese könnte man einmal dadurch generieren, dass man Arbeiter*innen Geld für den Konsum leihe. Da Arbeiter*innen ja bereits ihren Lohn als Bestandteil des Werts erhalten haben, kann die Tilgung eines Bankkredits nicht ein zweites Mal verrechnet werden. Damit speiste sich der Konsumkredit also nicht mehr aus der eigentlichen Quelle des Werts und würde Profite über die Mehrwertproduktion hinaus erlauben. Der zweite Modus sei der Aufkauf von staatlichem Land unter Wert und den Wiederverkauf zum Marktwert bzw. die kapitalistische Erschließung und produktive Nutzung des Bodens zum Marktwert. In letzterem Fall würde der Profit on Alienation auf den Mehrwert aufgeschlagen werden können. Theoretisch sind noch andere Zirkulationen zwischen öffentlicher und privater Sphäre denkbar, die zu solchen Profiten führen könnten, aber Shaikh nimmt die Bodenspekulation als übergeordnet an.

Profits on Alienation in der Türkei

Die beiden Autoren der Studie haben diese Überlegungen nun zur Grundlage genommen, die Höhe der Profits on Alienation in der Türkei zu bestimmen. Die Wahl der Türkei hat mehrere Gründe. Zum einen den nationalen Hintergrund der Autoren und zum anderen ist die Türkei ein entwickeltes Schwellenland, in dem die kapitalistische Form zwar bereits absolut dominiert, in dem es aber noch genug dem Markt entzogenes Land gibt, dass über solche anderen Profite zur Verfügung stünde. Ein Problem war, dass die Türkei zwar die Höhe der Einnahmen durch Landverkäufe veröffentlicht, aber keine zuverlässigen Listen über die Marktpreise führt. Anhand von Preisindices mussten die Autoren basierend auf Werten von 2010 daher die aktuellen Preise selbst berechnen, was eine mögliche Fehlerquelle ist. Ein weiteres Problem, das sich hierbei auftut, ist, dass die Autoren die Differentialrente nicht berücksichtigen konnten. Weist ein Stück Boden eine Qualität auf, die den Besitzer in einen Vorteil zu seinen Konkurrenten bringt, wird diese besondere Qualität als Extrarente vom Gesamtprofit abgezogen. So ist ein Grundstück direkt am Hafen oder am Flughafen mehr Wert als in der anatolischen Steppe, da die Zirkulationskosten niedriger ausfallen. Die Autoren machen jedoch keine Aussage darüber, ob der verkaufte Boden im Durchschnitt mehr oder weniger solcher Qualität aufwies. Die Höhe der Konsumkredite und generierten Zinsen konnte den Statistiken des Verbandes der türkischen Banken hingegen weniger problembehaftet entnommen werden.

Die Ergebnisse

Zunächst einmal stieg der Hauspreisindex seit 2010 exponentiell an. Verdoppelten sich die Hauspreise zwischen 2010 und 1016 noch in sechs Jahren, waren es zwischen 2019 und 2021 nur zwei Jahre. Dem gegenüber stehen aber keine exponentiellen Einnahmen des Staates auf den privatisierten Boden, sondern sehr wechselhafte Werte, sowohl was das Gesamtvolumen als auch den Quadratmeterpreis angeht. Auch die Zinseinnahmen auf Konsumkredite stiegen seit 2010 von 15 auf knapp hundert Milliarden Lira. Was nun den Anteil der Profits on Alienation an den Gesamtprofiten angeht, so bewegt er sich zwischen etwa 6% 2010 und 13% 2014 bei im Schnitt etwa 9%. Das ist nicht unbedingt vernachlässigbar, aber auch kein ausschlaggebender Anteil.

Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die türkische Regierung das Land sehr kostengünstig und manchmal sogar kostenlos an Investoren abgegeben hat, um Regionen und strategische Sektoren zu entwickeln. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden etwa 240 Millionen Quadratkilometer, die niedrig gerechnet wohl einen Wert von 240 Milliarden Türkischer Lira besaßen, privatisiert. Davon hat der türkische Staat gerade einmal sechs Milliarden eingenommen. Obwohl es also fast ideale Bedingungen für Profits on Alienation auf Bodenspekulation gegeben hätte, ist der Anteil am Gesamtprofitvolumen dann doch erstaunlich gering.
Dazu kommt ein weiterer Faktor. Der kleingewerbliche, informelle Sektor ist in der Türkei, wie in jedem Schwellenland sehr stark. Informell bedeutet aber auch, dass bei der Kreditvergabe nicht so streng zwischen Konsum- und Geschäftskrediten unterschieden werden kann. Da kleine Händler oder Handwerker selbst entscheiden, was sie von ihren Einnahmen für Konsum oder den Ausbau des Betriebs nutzen, ist anzunehmen, dass einige der formellen Konsumkredite in den Ausbau der Mikroökonomie geflossen sind. Die Werte der Profits on Alienation auf Konsumkredite sollte daher als überschätzt angesehen werden.

Die Autoren bewerten letztendlich nicht, ob die Profits on Alienation vernachlässigbar sind, wenn sie schon in einem Land mit idealen Voraussetzungen nur 9% betragen, sagen aber, dass sie vor allen Dingen konzeptionell beachtet werden müssen. Für die imperialistischen Zentren sollten sie erheblich geringer ausfallen und damit jedenfalls ökonomisch nicht die Bedeutung besitzen, die ihnen beispielsweise von David Harvey zugeschrieben wurde. Wenn die Profitmasse also von der Mehrwertmasse abweicht, dann primär wegen der Extraprofite im internationalen Handel, aber nicht wegen Landnahme, Accumulation by Dispossession oder Profits on Alienation.

Zusammenfassung

Zum Schluss noch eine prinzipiellere Kritik am Konzept der Profits on Alienation überhaupt. Erstens ist es sehr problematisch, Konsumkredite als zweite Profitquelle zu betrachten. Hier müsste man schon näher die Gründe für die Aufnahme der Kredite beleuchten. Wird zum Beispiel ein Kredit aufgenommen, weil die Löhne die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft nicht decken, dann kommt der Profit eben aus der Überausbeutung durch Drückung des Konsums und damit aus der Produktionssphäre, auch wenn er erst in der Distributionssphäre erscheint. Damit stammt er – anders als behauptet – aber auch wieder aus der Mehrwertproduktion. Wird ein Kredit aufgenommen, um einmalige hohe Kosten einfach auf mehrere Jahre und Monate aufzuteilen, dann sind die Zinsen unter Umständen aber Teil der Reproduktionskosten. Angenommen, es stünden keine Mietwohnungen zur Verfügung, dann wären Proletarier gezwungen, Kredite zum Hausbau aufzunehmen und diese Kosten inklusive Zinsen wären dann gesellschaftlicher Lohnbestandteil. Da wird dann doch nur variables Kapital innerhalb der Distributionssphäre sektorial verteilt, nur dass der Konsum der Ware dem vollständigen Kauf vorausgehen. Der Zins wäre Teil des Konsums, weil er die notwendige Bedingung ist, damit sich Arbeiter*innen zu einer benötigten Zeit ein teures Konsumgut anschaffen können. Nur, wenn der Konsumwunsch sich überhalb des durchschnittlichen kulturellen Niveau eines Landes bewegt und der Kredit deshalb aufgenommen wird, würde er mehr als die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft abbilden. Aber dann wäre zu fragen, wie die Arbeiter*in diesen Kredit überhaupt langfristig bezahlen soll und ob es sich hier nicht nur um eine Spekulationsblase mit hohem Ausfallrisiko handelt.

Noch problematischer zeigt sich der Verkauf von unbearbeitetem Land. Dass dieses Wert hat, rührt ja nicht aus dem Vergleich mit der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit, sondern auf politisch-juristischer Monopolisierung. Der Wert des Bodens ist damit nur insofern ökonomisch bestimmt, wenn der Besitzer den Wert seines Bodens als Kapital betrachtet und auch bereit wäre, ihn für höhere Profite andernorts zu veräußern (Näheres hier). Der Staat als Bodenbesitzer hat aber noch ganz andere Interessen. Er besteuert zum Beispiel produktive Unternehmen und kann damit quasi im Nachhinein die „Pacht“ als Steuern wieder einstreichen. Zudem entlastet jedes produktive Unternehmen, das Arbeitsplätze anbietet, den Sozialstaat und müsste genauso als geldwert verrechnet werden. Und drittens ist die strategische Ansiedlung von Industrie notwendig, um die Extraprofite an die imperialistischen Zentren, die zum Beispiel durch die Monopolisierung bestimmter Produktionsmittel abgetreten werden müssen, zu senken, was auch wieder in der gesamtökonomischen Rechnung einen geldwerten Vorteil bringt. Alle diese Überlegungen stehen aber im Einklang damit, dass alle Revenuequellen nur Ableitungen des durch Ausbeutung geschaffenen Mehrwerts sind. Das alles stellt dringlich die Frage, ob es so etwas wie Accumulation by Dispossession, kapitalistische Landnahme oder Profits on Alienation in dem Sinne, dass die Profite nicht nur verteilter Mehrwert sind, überhaupt gibt.

Das alles soll nun aber nicht bedeuten, dass die Privatisierung von Land kein Problem für die betroffenen bäuerlichen, proletarischen und semiproletarischen Klassen darstellen würde. Dann würde man dem Fetisch des Kapitalismus unterliegen, dass nur geldwert messbare ökonomische Folgen zählen würden. Gerade in der kapitalistischen Peripherie werden proletarische und semiproletarische Klassen so niedrig bezahlt, dass sie auf Allmenden sozialer, aber auch materieller Natur angewiesen sind. Das kostenlose Wasser aus dem Fluss, der Zugang zum See zum Fischen, der private Garten zum Gemüseanbau, freie Flächen für das eigene Vieh, Naturschutzgebiete für den Tourismus, etc.. All das ist existenziell für viele werktätige Menschen in den peripheren Ländern. Wenn diese Zugänge versperrt werden und Allmenden eingehegt werden, dann entstehen auf der Gebrauchswertebene existenzielle Probleme für die Menschen. Und hier es gilt natürlich, den solidarischen Kampf gemeinsam mit den Betroffenen zu entfalten, auch wenn die Auswirkungen für die Kapitalakkumulation gering sind.

Literatur:

Duman, A. & Tumak, A. (2023): Clarification and Application of the Category Profit on Alienation. In: Review of Radical Political Economics. Online First. DOI: 10.1177/04866134231204995.

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