Relative, absolute und Überausbeutung

⋄ Mit der ersten englischen Auflage von Dialektik der Abhängigkeit ist Ruy Mauro Marini ins Blickfeld einer breiteren englischsprachigen Debatte gewandert.

⋄ Insbesondere sein Konzept der Überausbeutung als Querschnittstheorie zwischen politischer Ökonomie und Postkolonialismus hat dabei Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

⋄ Tony Burns hält den zugrunde liegenden Ausbeutungsbegriff bei Marx aber noch für untersystematisiert.

⋄ In der aktuellen Capital&Class differenzierte er die Möglichkeiten zur Steigerung der Ausbeutung in fünf verschiedene Formen.

⋄ Überausbeutung ist in diesem Schema nur ein Sammelbegriff für Intensivierung der Arbeit, Optimierung der Produktionsabläufe und die Drückung der Konsumtion.

Im letzten Jahr wurde die Dialektik der Abhängigkeit von Ruy Mauro Marini erstmals in englischer Sprache verlegt. Seither lebte der Diskurs zwischen westlichen und südamerikanischen Marxist*innen spürbar auf. Zentral ist steht dabei Marinis Begriff der Überausbeutung als soziales Verhältnis zwischen peripheren und imperialistischen kapitalistischen Ländern. Auf Grund höherer Produktivität bzw. organischer Zusammensetzung könnten sich die Zentren einen höheren Anteil an der gesellschaftlich notwendigen globalen Gesamtarbeit aneignen, der wiederum von den Arbeiter*innen des Globalen Südens produziert wird. Das Konzept ist nicht unumstritten, da es nahelegt, dass dieses Ausbeutungsverhältnis auch zwischen den proletarischen Klassen der Weltregionen bestünde; Arbeiter*innen des Westens also Arbeiter*innen des Südens ausbeuteten.

Tony Burns hat diese Debatte in der aktuellen Capital&Class ganz grundsätzlich aufgerollt. Er sympathisiert zwar mit dem Konzept der Überausbeutung, hält den Begriff der Ausbeutung bei Marx selbst hingegen noch für zu wenig systematisiert. Aus den drei Kapitalbänden hat er nochmal alle Formen der Ausbeutung und ihren Einfluss auf die Mehrwertrate zusammengefasst.

Ausbeutung und Mehrwert

Innerhalb der permanent streitlustigen marxistischen Community gibt es wohl wenig, über das mehr Einigkeit bestünde, als dass sämtlicher gesellschaftlich anerkannter Wert Produkt menschlicher Arbeit istg und die sozialen Unterschiede in der unterschiedlichen Form der Aneignung menschlicher Arbeitsprodukte begründet liegt. Um genauer zu sein, besitzen Menschen die Fähigkeit, mehr Waren zu produzieren als zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft notwendig ist: das Mehrprodukt. Während es in früheren Gesellschaften von den herrschenden Klassen gewaltsam angeeignet wurde, geschieht dies im Kapitalismus durch die Trennung der Produzent*innen von den Mitteln der Produktion. Besitzlose müssen bei der besitzenden Klasse für Lohn arbeiten, wobei sich der Lohn in der Höhe des Preise der Mittel zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft bewegt, während der Wert der geschaffenen Waren größer ist und vom Kapitalisten angeeignet wird. Marx hat für den Umstand, dass diese gesellschaftliche Beziehung über die Ware vermittelt verdinglicht erscheint, durch den rhetorischen Kunstgriff verdeutlicht, dass er Mehrwert und Ausbeutung als synonyme Begriffe verwendet, von denen der erste auf die verdinglichte Form und der zweite auf die persönliche Form Bezug nimmt. Der Arbeitstag teilt sich nach Marx in zwei Hälften auf. Den ersten Teil arbeitet die Arbeiter*in für die eigenen Bedürfnisse, den zweiten produziert sie Mehrwert für den Kapitalisten. Das Verhältnis von Mehrarbeit und notwendiger Arbeit bzw. von Mehrwert und variablem Kapital wird Mehrwert- oder Ausbeutungsrate genannt.

Während es Differenzen in der Messmethodik oder sogar in der prinzipiellen Messbarkeit der Ausbeutung gibt, ist dieser Sachverhalt gemeinhin akzeptiert und wird von nur wenigen Marxist*innen in Frage gestellt, meist nicht ohne prinzipielle Konzessionen an bürgerliche Anschauungsweisen zu machen. So elementar also der Begriff der Ausbeutung im Marxschen Werk ist, wendet nun Tony Burns ein, so wenig ist er im Kapital systematisch ausgearbeitet. Insbesondere sei allgemein verbreitet, dass es nur zwei Formen der Steigerung des Mehrwerts gäbe, die absolute und die relative Steigerung, wie es Marx im 14. Kapitel des Kapitals nahelegt. Die absolute Steigerung resultiere dabei aus der Steigerung der Länge des Arbeitstages. Dies sei hier verdeutlicht, wo die Linie zwischen A und B die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Zeit und die Strecke B zu C die Länge der Zeit für die Mehrwertproduktion darstellt:

vorher: A ____________ B ___________ C

nachher: A ____________ B _________________C’

Bei der relativen Arbeitszeit hingegen werde die notwendige Arbeitszeit zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft verringert:

vorher: A ____________ B ___________ C

nachher: A ________ B _______________ C

Marx nennt hier die Steigerung der Produktivkräfte als die maßgebliche Einflussgröße. Es entstand der Eindruck, es gäbe nur diese beiden Möglichkeiten. Burns hingegen sagt, dass sich in den drei Kapitalbänden insgesamt vier Varianten der relativen Mehrwertsteigerung fänden, wodurch die Überausbeutung nicht als die dritte Form angegeben werden könne.

Die fünf Formen der Steigerung des Mehrwerts

Burns identifiziert also insgesamt fünf Formen der Mehrwertsteigerung. Erstens natürlich die Verlängerung des Arbeitstages und damit die absolute Mehrwertproduktion. Diese kann zur Folge haben, dass auch die Reproduktionskosten steigen, da zum Beispiel Haushaltsarbeiten nicht mehr durch die Arbeiter*innen selbst erledigt werden können und fertiges Essen oder Haushaltsgeräte zusätzlich gekauft werden müssen bzw. Kinder und Angehörige länger betreut werden müssen. Nur wenn die Länge des Arbeitstages überproportional zu diesen entstandenen Kosten steigt, steigt auch die Mehrwertrate. Ähnliches gilt für die Steigerung der relativen Mehrwertrate durch die Steigerung der Produktivität der Arbeit. Durch Erhöhung der Produktivität können die Kosten für die Lebensmittel der Arbeiter*innen natürlich gesenkt werden. Wenn auf Grund gestiegener Produktivität nur noch 4 statt 6 Stunden für die notwendigen Waren benötigt werden, kann die Arbeiter*in länger für den Kapitalisten arbeiten. Allerdings sind Produktivitätserhöhungen meist mit der Einführung neuer Maschinen verbunden. Damit steigt die organische Zusammensetzung und der mehrwertbildende Anteil am Gesamtwert sinkt relativ. Hier muss der Kapitalist ebenfalls wieder abwägen, ob diese Senkung durch die höhere Ausbeutungsrate kompensiert wird. Insbesondere, wenn die Lohnkosten hoch sind, wird sich daher die neue Maschine schneller rechnen als bei niedrigen Lohnkosten (Näheres hier).

Darüber hinaus gibt es jedoch noch drei andere Möglichkeiten der Mehrwertsteigerung. Die simpelste ist die Optimierung der Produktionsabläufe. Wenn irgendwo mit einem Handgriff ohne Mehraufwand zwei statt einem Teil auf einmal gestanzt werden können, steigt natürlich das Mehrprodukt, ohne dass zu berücksichtigende Kosten entstehen. Im Gegenteil werden sogar die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft geringer. Hier handelt es sich sozusagen, um die einzige Möglichkeit zur Mehrwertsteigerung für den Kapitalisten ohne Pferdefuß.

Möglichkeit Nummer vier ist die Intensivierung der Arbeit. Lasse ich das Fließband 10% schneller laufen, dann erhöht sich das Gesamtprodukt um 10% und bei gleichbleibendem Lohn die Mehrwertrate um 10%. Allerdings ist hier nicht ganz ausgemacht, ob die Löhne konstant bleiben können. Die Intensivierung kann zu höheren Reproduktionskosten durch höhere Erschöpfung oder mehr notwendige Ausbildung führen, weshalb die Intensivierung der Arbeit zur Mehrwertratensteigerung immer unter Vorbehalt zu sehen ist.

Die letzte Möglichkeit ist die wohl vielfältigste: die Drückung der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft. Die bekannteste Version dieser Methode fungiert im allgemeinen Sprachgebrauch als Reallohnsenkung. Die Krux an dieser Geschichte ist, dass sich zumindest auf Dauer die Arbeitskraft nicht unter ihrem Wert reproduzieren lässt. Arbeiter*innen am oder unter dem Existenzminimum fristen vielleicht noch ein kärgliches Dasein, aber der Kampf ums Überleben frisst geistige und körperliche Ressourcen, die am Arbeitsplatz nicht mehr zur Verfügung stehen und insbesondere die langfristige Reproduktion des Proletariats wird bei ausbleibendem Nachwuchs vakant. Manchmal wird daher in westlichen Ländern der Reallohnverlust durch staatliche Leistungen im Bereich der Reproduktion kompensiert, damit Arbeiter*innen sozusagen über einen Lohnbestandteil nicht frei entscheiden können, sondern dieser am Kapitalinteresse orientiert bleibt. Löhne, die auch die kurzfristige Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht erlauben, finden hingegen nur unter historisch besonderen Bedingungen statt, entweder weil ein enormer Arbeitskräfteüberschuss vorhanden ist oder die Reproduktion durch nicht- bzw. vorkapitalistische Reproduktionsweisen gesichert wird.

Mehrwertrate, Profitrate und Überausbeutung

Warum ist das nun von Belang? Die Mehrwertrate ist über die Gleichung Profitrate = Mehrwertrate x {1/(organische Zusammensetzung +1)} mit der Profitrate verknüpft. Da Marx annahm, dass die organische Zusammensetzung beständig steige, also mit immer mehr und immer komplizierteren Maschinen gearbeitet werde, leitete er den tendenziellen Fall der Profitrate ab. Diesem Fall kann das Kapital nur mit einer Erhöhung der Ausbeutung entgegenwirken. Die Länge des Arbeitstages lässt sich jedoch nicht beliebig verlängern und insbesondere, wenn die Arbeit komplizierter wird, muss auch der Aufwand für die Ausbildung und Erholung steigen, damit die Arbeiter*innen überhaupt mit den gestiegenen Produktivkräften zu Rande kommen. Die Steigerung des relativen Mehrwerts durch Intensivierung der Arbeit ist jedoch ebenfalls begrenzt, da mit intensiverer Arbeit auch die zur Reproduktion benötigten Kosten steigen. Im Anschluss an Marini haben diverse antiimperialistische Marxist*innen daher die Überausbeutung der kapitalistischen Peripherie über den globalen Handel als dritte Option der Ausbeutungsratensteigerung angegeben. Würden die Preise peripherer Produkte gedrückt, indem etwa die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft dort nicht voll bezahlt werden oder die Arbeit so einfach gehalten wird, dass keine kulturellen oder Ausbildungskosten entstehen, würde der Warenkorb eine*r Arbeiter*in in den Zentren bei gleichem Gebrauchswert preiswerter und die Mehrwertrate könnte in den Zentren steigen.

Die Kritik, welche nun durch die Ausdifferenzierung des Ausbeutungsbegriffes am Begriff der Überausbeutung vorgenommen wird, ist, dass es sich bei der Überausbeutung nicht um ein einheitliches Phänomen handelt. Ganz wesentlich insistiert er natürlich auf die Drückung der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, die durch geringere Ausbildung, weniger Zeit für politisches Engagement, weniger Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen, Ausschluss von kulturellen Distinktionsmerkmalen etc. die Welt materiell und symbolisch hierarchisiert. Nach Burns ist jedoch die Steigerung der Mehrwertrate nur als Ensemble aller fünf Mechanismen begreifbar. Mitunter kann die Intensivierung der Arbeit oder die Reorganisation der Produktionsabläufe einschneidendere Bedeutung für die unmittelbare Erfahrung der Proletarier*innen haben als die Drückung der Konsumtion.

Zusammenfassung

Letztendlich müsste man die Kritik noch etwas weiter treiben. Der Begriff Ausbeutung bezieht sich auf eine gesellschaftliche Beziehung. Marinis Begriff bleibt aber unscharf, zwischen wem diese Beziehung eigentlich besteht. Zwischen Proletarier*innen der kapitalistischen Zentren, deren Konsumtion nicht weniger eine Kalkulationsgröße der Kapitalverwertung ist, und den Proletarier*innen der Peripherie. Das widerspräche dem marxistischen Ansatz, dass die Ausbeutung ja gerade das Verhältnis zwischen Kapitalist und Proletarier*in beschreibt. Zwischen den Kapitalisten der Zentren und der Proletarier*innen der Peripherie? Da wäre schon eher plausibel, ignoriert aber die Rolle der jeweiligen peripheren Bourgeoisien. Vielmehr wäre folgendes richtig. Wenn Marini die Überausbeutung mit dem Umverteilungsmodus des ungleichen Tausches, dann bezieht er sich bereits auf die Sphäre der Distribution des gesamtgesellschaftlichen, das heißt globalen Mehrwerts. Dann ist es aber eine Beziehung zwischen den einzelnen nationalen Fraktionen der Bourgeoisie und liegt gar nicht mehr in der Sphäre der Produktion, welcher der Ausbeutungsbegriff angehört. Man käme also nach genauerer Betrachtung des Ausbeutungsbegriffs nicht umhin, den Begriff der Überausbeutung als irreführend zu verwerfen und lieber von Extraprofiten zu sprechen. Denn der von Marini beschriebene Modus gehört der Verwandlung des Mehrwerts in Profit an. Mit einer Präzisierung hier würden vielleicht auch einige Missverständnisse hinsichtlich der in den letzten Jahren diskutierten imperialen Lebensweise des westlichen Proletariats ausgeräumt werden können.

Literatur:

Burns, T. (2023): Marx’s Capital and the Concept of Superexploitation. In: Capital&Class. Online First. DOI: 10.1177/03098168231199913.

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