Niedrige Löhne? Niedrige Produktivität.

⋄ Hohe Löhne gefährdeten Investitionen, so werfen die Kapitalisten in Tarifrunden häufig ein. Jedoch nur höhere Produkutivität ließe Löhne steigen und mache Waren preiswerter.

⋄ Claudia Fontanari und Antonella Palumbo untersuchten in der aktuellen
Metroeconomica den Zusammenhang zwischen Löhnen und Produktivität und kamen zu anderen Befunden.

⋄ Niedrige Löhne machten die Ware Arbeitskraft billig und setzten so keinen Anreiz mehr, in höhere Produkitivät zu investieren.


⋄ Zudem senkten die Methoden der Lohndrückung, wie Leiharbeit, kurzfristige Beschäftigung oder Werksverträge die Produktivität.

⋄ Auch die Bedeutung der Nachfrage für die Ausweitung der Produktion belegten die Autorinnen in ihrer Studie.

Politiker und Arbeitgebervertreter schäumen. In den Redaktionsstuben wird geschwitzt, denn in Deutschland wird gestreikt. Im öffentlichen Dienst. Bei der Post. Bei der Bahn. Auf Grund der massiven Vorjahresinflation fallen die Forderungen der Gewerkschaften zweistellig aus und viele lassen sich nicht mehr mit langen Laufzeiten abspeisen. Die Arbeiter*innen wollen zumindest ihre Reallöhne behalten. In den Medien warnt man vor einer Lohn-Preis-Spirale und die Umlage der Kosten auf den Rest der Gesellschaft.

Ökonomen beten dabei immer das Mantra her, dass die Löhne nur mit der Produktivität wachsen dürften (obwohl die Produktivität in den letzten Jahrzehnten weit stärker gewachsen ist als die Löhne). Claudia Fontanari und Antonella Palumbo haben in der aktuellen Metroeconomica untersucht, ob es nicht gerade umgekehrt ist. Ihre These: Wenn Arbeit zu billig ist, dann lohnt es sich nicht mehr für die Kapitalist*innen in höhere Produktivität zu investieren. Können sie das auch belegen?

Über Produktivität

In den letzten 15 Jahren ist die Produktivität in westlichen Industrienationen kaum mehr merklich gestiegen. Die Erklärung liberaler Ökonomen lautet, dass zu hohe Steuern und Löhne keinen Raum mehr für Investitionen lassen würden. Könnte jedoch – dank Steuersenkungen und Lohnzurückhaltung – in Zukunft produktiver produziert werden, würden nicht nur Löhne im Schritt mit der Produktivität wachsen können, sondern auch Waren effektiver und damit preisgünstiger hergestellt werden können. Der jetzige Lohnverzicht der Arbeiter*innen sei damit eine Investition in eine bessere Zukunft der werktätigen Klasse.

Marx sah das, wie man sich leicht denken kann, etwas anders. Für ihn werden die Arbeiter*innen immer in Höhe der Kosten für die Mittel ihrer Reproduktion bezahlt. Sinkt durch Investitionen in die Produktivität der Wert der Waren, dann sinkt auch der Wert ihrer Arbeitskraft. Selbst die Kapitalisten haben von einer Produktivitätssteigerung nur so lange einen Vorteil, bis sich die neue Produktionsweise verallgemeinert hat. Der zukünftig geringe Anteil der wertbildenden Arbeitskraft am Gesamtwert der Ware führe vielmehr zu einem tendenziellen Fall der Profitrate. Der Streik als Kampf um die Höhe der Mehrwertrate m/v sei nur mittelbar mit der organischen Zusammensetzung als Maß für die Produktivität c/v verbunden.

Nun bedeutet die mittelbare Verbindung eben nicht, dass es keine Verbindung gäbe. Die Autorinnen Claudia Fontanari und Antonella Palumbo von der Universität in Rom haben drei Hypothesen zu dieser mittelbaren Verbindung aufgestellt. Die erste ist auf gewerkschaftlicher Seite gut bekannt. Höhere Löhne bedeuteten eine höhere Nachfrage und somit einen Anreiz für neue Investitionen. Zweitens würde eine Verbilligung der Ware Arbeitskraft dazu führen, dass weniger Anreize für das Kapital bestünden, es produktiv zu nutzen. Nun könnte dem Proletariat recht egal sein, wie produktiv es ausgebeutet werde. Weniger ist da eher besser. Wenn jedoch mit in Rechnung gestellt wird, dass in wichtigen strukturellen Bereichen wie Bildung, Transport oder Handwerk Arbeitskraft fehlt, ist durchaus auch das Proletariat von der Verknappung des Dienstleistungsangebots betroffen. Und drittens argumentieren die Autor*innen, dass die konkreten Methoden zur Verbilligung der Arbeitskraft – Leiharbeit, Werksverträge, etc. – zu Produktivitätssenkungen geführt hätten.

Methodik

Um die Hypothesen zu belegen, müsste gezeigt werden, dass das Wirtschaftswachstum positiv von der Arbeitsproduktivität und diese wiederum positiv von der Lohnhöhe abhängen würde. Wie im Artikel zur ARIMAX-Methode (Näheres hier) problematisiert zeigen ökonomische Daten erstmal nur eine Korrelation und keine Kausalität an und hängen darüber hinaus von vielen anderen Faktoren ab. Zudem kritisieren die Autorinnen, dass die konventionelle Messung über die Steigerung des Value Added per Working Hour (neuer Wert pro Arbeitsstunde) ein unterkomplexes Maß für die Produktivität sei, da gar nicht erkennbar ist, ob die höhere Produktivität nun durch die Steigerung der Mehrwertrate (Intensivierung der Arbeit bei gleicher Produktionsweise, Verlängerung unbezahlter Arbeit) oder durch eine bessere Produktionsweise verursacht wurde.

Um diesen Problemen zu begegnen, bildete eine „Shift Share Analyse“ das Fundament der Untersuchung. Diese vergleicht die Entwicklung eines Sektors mit der einer ganzen Volkswirtschaft. Das, was ein Sektor über oder unter dem allgemeinen Trend zur Entwicklung beigetragen hat, wird dann als spezifischer Einfluss interpretiert. Diese Methode halten die Autor*innen deshalb für sinnvoll, weil sie darin erkennen können, welche Sektoren mit welchen spezifischen Produktivitätsentwicklungen einen Beitrag zur Gesamtproduktivität geliefert haben.

Um aus diesen Analysen eine Schlussfolgerung ziehen zu können, bedienten sich die Autorinnen des Frameworks von Sylos-Labini, der zwei Parameter in ihrem Zusammenspiel als Maß für die Produktivität als wichtig erachtete. Der Anteil der lebendigen Arbeit im Vergleich zur Maschinerie und der Anteil der lebendigen Arbeit im Vergleich zum Gesamtwert. Das ist ein wenig anders ausgedrückt auch das, was Marx mit Mehrwertrate und organischer Zusammensetzung als entscheidende Parameter der Profitrate herleitete. Daraus entwickelte er eine Produktivitätsgleichung, die zur Grundlage für verschiedene Modellannahmen diente. Diese wurden in ihrer Erklärungsmacht durch statistische Methoden (den Kleibergen-Paap Wald-Test) verglichen, um das am besten erklärende Modell herauszufiltern.

Die Ergebnisse

Zunächst einmal analysierten die Autorinnen den Shift-Share zwischen der Produktivität der einzelnen Sektoren und der Gesamtproduktivität. Dabei stellten sie fest, dass die Arbeitskräfte stets von den Sektoren mit hoher Produktivität in die mit niedrigerer Produktivität gestoßen wurden. Zwischen 1992 und 2000 betraf dies insbesondere den hochproduktiven Industriesektor, aus dem die Arbeitskraft in den weniger produktiven Dienstleistungssektor gespült wurde. Und zwischen 2008 und 2018 wurden auf Grund der enormen Produktivitätsentwicklung in der Datenverarbeitung, die zunehmend automatisiert und digitalisiert wurde, Arbeitskräfte aus diesem herausgedrängt.

Eine zweite Shift-Share-Analyse zeigte, dass die Sektoren, in denen die Produktivität überdurchschnittlich stieg, nicht auch ihre Produktionskapazitäten in gleichem Maße ausbauten. So stiegen in diesen Sektoren zwar die Löhne, es wurden aber auch viele Arbeiter*innen entlassen und in den Niedriglohnsektor gespült. Und dies, obwohl die Löhne nicht einmal annähernd an die Produktivität angepasst wurden. Die Legende, die Kapitalisten würden die durch Lohnverzicht und Produktivitätssteigerung erzielten Profite reinvestieren, scheint hier widerlegt werden zu können.

Die empirische Überprüfung der Gleichung von Sylos-Labini zeigte zunächst, dass seine Gleichung tatsächlich als Modell die Daten gut erklärt. Ganz grundlegend konnte festgestellt werden, dass Produktivitätssteigerungen zwar die Grundlage für eine Produktionsausweitung bildeten, aber nur dann, wenn durch höhere Löhne tatsächlich auch eine höhere Nachfrage generiert wurde. Weiterhin zeigte sich, dass die Steuerabgaben eine geringere Produktionsausweitung nach einer Produktivitätssteigerung nur sehr wenig beeinflussten. Dass hohe Steuern also das Wirtschaftswachstum bremsten, scheint zumindest für die USA nicht zu gelten. Der Zusammenhang zwischen den niedrigen Löhnen und der sinkenden Produktivitätsentwicklung konnte im historischen Vergleich nachgewiesen werden, allerdings als einer unter mehreren Einflüssen. Allerdings wollen die Autorinnen in Zukunft noch andere Länder untersuchen, um keinem Bias einer nationalen Besonderheit der USA zu unterliegen. Auch einen statistischen Einfluss der Jobunsicherheit auf die sinkende Produktivitätssteigerung konnte aufgezeigt werden.

Zusammenfassung

Natürlich würde wahrscheinlich ein*e Gegenstandpunkt-Vertreter*in einwenden, es sei nicht Aufgabe von Kommunist*innen, den Kapitalist*innen Lohnerhöhungen schmackhaft zu machen. Dennoch kann man aus der Studie heraus zwei interessante Schlussfolgerungen anstellen. Offenbar beschreibt die eng mit der Marxschen Theorie verwandte Sylos-Labini-Gleichung die Effekte der Lohnhöhe auf die Produktivität gut. Und weiterhin zeigt sich das Argument der Bourgeoisie, das Proletariat müsse jetzt auf Lohnsteigerungen verzichten, um später besser zu leben, als nicht stichhaltig. Es sind billige Arbeitskraft, unsichere Jobverhältnisse und fehlende Nachfrage, welche sich negativ auf die Produktivität auswirken.

Die Gefahr, dass Marxist*innen hier den Job der Kapitalisten übernehmen und ihr Glück erzwingen, ist lächerlich. Der Kapitalismus ist auch bei hohen Löhnen in sich widersprüchlich und ausbeutend gegen Mensch und Natur. Höhere Produktivität erfordert meist mehr Bildung und höhere Arbeitsintensität und entkräftet keinesfalls von der Notwendigkeit, dass die Ökonomie nach den Bedürfnissen der Menschen, anstatt nach Profiten geplant werden muss. Jeder gewonnene Streik erhöht jedoch auch das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen, wenn auch zunächst nur spontan und ökonomistisch. Und jedes widerlegte Argument des Kapitals schwächt dieses.

Die Studie von Claudia Fontanari und Antonella Palumbo reframed die Kämpfe um höhere Löhne neu. Sie ist methodisch sehr sorgfältig ausgestaltet und verbindet statistische Größen sehr gut mit einer Darstellung der ökonomischen Prozesse. Gerade eine Ausweitung dieser Analyse auf Deutschland könnte wohl die Ergebnisse validieren, da hier mit den Hartz-Reformen ein ganz forcierter Ausbau des Niedriglohnsektors betrieben wurde. Seitdem ist das Produktivitätswachstum auch stark abgeflaut. Der Sozialdemokratie könnte hier die eigene Melodie vorgespielt werden, was passiert, wenn man sich von der Bourgeoisie kaufen lässt.

Literatur:

Fontanari, C. & Palumbo, A. (2023): Permanent scars: The effects of wages on productivity. In: Metroeconomica. Jahrgang 74. Ausgabe 2. S. 351–389.

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