⋄ Der Internationale Währungsfonds sieht Kapitalflucht als eines der größten ökonomischen Probleme der kapitalistischen Peripherie an. ⋄ Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der IWF selbst zur Kapitalflucht beiträgt. ⋄ Elias Nosrati, Andreas Kern, Bernhard Reinsberg und Dilek Sevinc haben für die Socio-Economic Review aus Oxford die Rolle des IWF bei der Kapitalflucht untersucht. ⋄ Sie konnten zeigen, dass die durch den IWF durchgesetzten Privatisierungen, Liberalisierungen und Finanzreformen die Kapitalflucht signifikant gefördert wird. ⋄ Anti-Korruptions- und Geldwäschegesetze hingegen konnten die Kapitalflucht bremsen, was den IWF in die Lage versetzt, die Abhängigkeit peripherer Länder zu steuern. |
Jährlich fließen etwa 6 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe nach Afrika.Das klingt erstmal nach einer ganzen Menge. Aber wie viel fließt zurück? Der Finanzstrom allein aus der Subsahara beläuft sich auf jährlich zwei Billionen Dollar. Zwei Billionen. Das entspricht dem halben Bruttoinlandsprodukt Deutschlands. Das Geld, das für Rohstoffe, landwirtschaftliche Erzeugnisse, einfache Industrieprodukte und durch den Tourismus in die armen Weltregionen fließt, bleibt nicht dort, sondern versickert ebenso schnell wieder. Und es fehlt für Investitionen, Subventionen, staatliche Einrichtungen, Sozialleistungen oder allgemein den Konsum. Kapitalflucht stellt natürlich für die betroffenen Länder ein enormes Problem dar. Man fragt sich, ob die Kapitalflucht nur ein Mangel der internationalen Wirtschaftsstruktur ist oder sogar gewollt. Die Verweise der imperialistischen Staaten auf korrupte oder autoritäre Regime und Bad Governance wirken angesichts der Tatsache, dass jemand das Geld auch dankend entgegen nehmen muss, wie der Ausspruch: „Haltet den Dieb!“.
Ein Grundpfeiler der imperialistischen Wirtschaftsstruktur ist dabei der Internationale Währungsfonds IWF. Elias Nosrati, Andreas Kern, Bernhard Reinsberg und Dilek Sevinc haben für die Socio-Economic Review aus Oxford die Rolle des IWF bei der Kapitalflucht untersucht. Die Ergebnisse dürften wenige überraschen.
Kapitalflucht oder Kapitalexport?
Beginnen wir zunächst damit, was eigentlich Kapitalflucht ist. Besonders für marxistisch-leninistische Betrachtungen ist es wichtig, Kapitalflucht von Kapitalexport zu unterscheiden, da ersteres ein Merkmal imperialistisch dominierter und zweiteres ein Merkmal der imperialistischen Länder selbst ist. Auf der ökonomischen Oberfläche aber sehen die Prozesse jeweils gleich aus. Geld wird aus einem Land heraus transferiert, weil andernorts höhere Profitraten locken. Doch selbst die bürgerliche Ökonomie hat bereits festgestellt, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Phänomene handelt und man nicht eine deutsche Investition in Rumänien mit der Überweisung von Ölrentengewinnen in ein Steuerparadies gleichsetzen kann. Drei Theorien zur näheren Definition der Kapitalflucht haben sich daher herausgebildet: Erstens: das Kapital flieht, wenn es abnormal schnell ein Land verlässt. Zweitens: Das Kapital nutzt illegale Wege aus einem Land. Drittens: Der Kapitalexport steht im Widerspruch zu einem normativen Anspruch des ideellen Gesamtkapitalisten.
Der erste Fall trifft für Afrika nur bedingt zu. Während lokal im Zuge von Staatsstreichen, Wortschaftskrisen oder Bürgerkriegen immer mal lokal schnell viel Geld ins Ausland geschafft wird, ist der generelle Kapitalfluss aus der Subsahara mit 18 Trillionen Dollar seit 1980 ein kontinuierlich wachsendes Phänomen. Dabei werden – und das betrifft zweitens – nicht nur illegale Wege benutzt, auch wenn diese durch die Unterfinanzierung der staatlichen Bürokratien weit offen stehen. Und die dritte Definition lässt sich ganz gut auf stabile Regime wie Russland, China, Indien oder eben die imperialistischen westorientierten Staaten anwenden. In Afrika wird der ideelle Gesamtkapitalist aber teilweise durch autoritäre Militäraristokratien und Kompradoren vertreten, die ja gerade das Interesse an der Kapitalflucht besitzen und nicht eines nationalen Gesamtkapitalisten.
Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass Kapital nicht einfach nur Geld ist, sondern Geld, das dazu angelegt wird, mehr Wert zu schöpfen und im Verwertungsprozess mehrfach die Form ändert. Kapitalflucht ist also nicht nur Geldflucht. Produktionsmittel sind auch Kapital, liegen aber als Asset und damit unter unsicheren Bewertungskriterien vor, wobei das Geld, dass den Wert der Produktionsmittel repräsentiert an einem völlig anderen Ort sein kann. Damit einher geht, dass Warenexport auch meist mit Kapitalexport verbunden ist, besonders bei Rohstoffen. Schließt etwa ein Ölhändler mit einem Ölproduzenten einen Vertrag über eine gewisse Ölmenge ab, so sind die Summen in der Regel so groß, dass der Händler sie nicht einfach aus den eigenen Reserven zahlen kann. Vielmehr nimmt er beim Produzenten einen Kredit auf, den er abbezahlen kann, wenn er selbst das Öl weiterverarbeitet und verkauft hat. Oberflächlich sieht das jedoch aus, wie ein Kapitalexport aus dem rohstoffliefernden Land.
Die doppelte Rolle des IWF
Diese Betrachtungen können hier nicht zu einer Definition führen, sondern sollen für das Problem sensibilisieren, das hinter dem Begriff der Kapitalflucht steckt. Aber wie sieht nun die Rolle des IWF bei der ganzen Geschichte aus. Ursprünglich wurde dieser als rechtlich, organisatorisch und finanziell selbständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen gegründet, um das internationale Währungssystem stabil zu halten und damit förderlich auf den globalen Handel zu wirken. Das wichtigste Instrument ist dabei die Vergabe von Krediten, die in der Regel an politische Liberalisierungsforderungen gekoppelt werden.
Bei der Kapitalflucht spielt der IWF eine zweideutige Rolle. Auf der einen Seite besteht natürlich auf der Seite der Gläubiger ein virales Interesse daran, dass die kreditnehmenden Länder ihre Schulden auch zurückzahlen können. Damit dies geht, muss die einheimische Wirtschaft potent genug sein, nicht nur Profite in ungefährer Höhe der lokalen oder globalen Durchschnittsprofitrate zu erzielen, sondern auch noch zusätzlich die Zins- und Tilgungslasten zu tragen. Das funktioniert neben verstärkter Ausbeutung der Bevölkerung nur durch hinreichende Investitionen. Durch Gesetze gegen Korruption und Geldwäsche, die den Schuldnern auferlegt werden, wird versucht, den Diebstahl der Kredite durch eine räuberische Kompradorenklasse zu verhindern.
Doch der IWF richtet auch massiven Kollateralschaden an. Die erzwungenen Öffnungen der Märkte stellen plötzlich Unternehmen und Banken in politisch und sozial instabilen Ländern, mit fehlender Verwaltung und undefinierten Eigentumsfragen auf eine Stufe mit den Global Playern, die Armeen an Rechtsanwälten und mächtige Regierungen für ihre Interessen in Stellung bringen können, sodass die Geschäfte bereits nicht auf Augenhöhe stattfinden. Leaks wie die Padora Papers haben in den letzten Jahren das kriminelle Ausmaß dieser ungleichen Beziehung aufgedeckt. Der IWF fordert zudem Privatisierungen im großen Stile, die eine nationale Bourgeoisie gar nicht bezahlen kann, wodurch Kleptokraten, Kompradoren oder eben ausländische Investoren an die ehemals staatlich kontrollierten Betriebe kommen, die weniger eine Entwicklung der lokalen Ökonomie, sondern kruzfristige Profite im Sinn haben. Deregulationsforderungen im Finanzsektor nehmen den Ländern zusätzlich die Mittel, ungewünschte Kapitaltransfers genauso zu unterbinden, wie es sich die imperialistischen Regierungen ganz natürlich herausnehmen. Die Frage, die aussteht, ist nun, wie sich der Einfluss der IWF auf die Kapitalflucht messen lässt und welche der beiden Tendenzen überwiegt.
Interessantes Datenmaterial
Leider gibt es bis heute keine robuste Evidenz darüber, ob, wie stark und in welche Richtung der IWF Kapitalflucht beeinflusst hat. Die Lücke wollten die Wissenschaftler aus Oxford, Oslo, Glasgow und Washington nun schließen. Insbesondere die Kausalitäten sind bei geringer Sample Size nur schwer statistisch aufzudecken. Die Autoren konnten aber eine bisher ungenutzte Datenquelle anzapfen: die Datenbank über bilaterale Bankeinlagen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. 1930 gegründet, um die Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg nach der Weltwirtschaftskrise zu koordinieren, ist die Bank die älteste internationale Finanzinstitution der Welt. Heute gilt sie als Bank der Zentralbanken und alle artverwandeten Institutionen sind bis auf die 2022 suspendierte russische vertreten. Sie verwaltet deren Währungsreserven, gilt aber vordergründig als das wichtige Forum zur Koordination der Zentralbanken. In der Datenbank sind alle Finanzströme zwischen 2000 und 2018 vierteljährlich zusammengefasst, welche zwischen den Geschäftsbanken der Mitgliedstaaten und aller weiteren Staaten offiziell erfasst wurden.
Entsprechend dem Kriterium, dass Kapitalflucht oft reaktiv auf veränderte Situationen auftritt, während Kapitalexport wesentlich stabiler ist, haben die Autoren dabei nicht die absoluten Entwicklungen der Finanzströme untersucht, sondern die Abweichungen kurz nach der Etablierung der IWF-Programme. Das mathematische Modell, dass der empirischen Untersuchung zugrunde liegt, ist zunächst ein ganz basales und ermittelt nur die Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer IWF-Maßnahme und der Veränderung der Finanzströme. Stufenweise wurde das Modell dann aber verfeindert, um etwa andere beeinflussende Faktoren wie Wirtschaftskrisen oder Staatsstreiche als andere Gründe für Kapitalflucht berücksichtigen zu können.
Die IWF-Reformen wurden verschiedenen Clustern zugeordnet: Marktliberalisierungen, Privatisierungen, Finanzreformen und Anti-Korruptions- und -geldwäschegesetze. Die IWF-Interventionen wurden nach Einfluss gewichtet. Ein Sensitivitätstest erlaubt eine recht genaue Abschätzung des Einflusses unbekannter anderer Einflüsse. Trotz der Berücksichtigung möglichst vieler Fehlerquellen, gibt es natürlich noch immer nicht erfasste Probleme, wie etwa die Auswirkugen der Reformen auf Nachbarländer, die zum Teil nicht unerheblich sind (vergleiche hier).
Die Ergebnisse
Im simpelsten Modell – also bei der Berücksichtigung der allerwenigsten Kontrollvariablen – konnten die Autoren eine Erhöhung der Finanzströme um 1,6 Standardabweichungen aus den Ländern, die ein IWF-Programm durchlaufen, feststellen. Das Konfidenzniveau lag dabei bei 95%. Werden mehr Kontrollvarialen berücksichtigt, steigen die positiven Abweichungen auf 2,0 bzw. 2,1 Standardabweichungen an. Durch eine nicht näher dargestellte Kontrolluntersuchung, welche die Kapitalflucht in Steueroasen, die nicht der BIZ angehören, berücksichtigte, konnte die Aussagekraft des Ergebnisses auch nochmal erhärtet werden. Man kann kurz sagen, dass es damit sehr robuste empirische Evidenz gibt, dass der IWF Kapitalflucht – ob gewollt oder ungewollt – befördert.
Aber es gibt noch detailliertere Aussagen. Erzwungene Marktöffnungen führen zu einer Erhöhung des Outflows um 1,4 Standardabweichungen. Prinzipielle Liberalisierungen haben mit 0,9 Standardabweichungen einen wesentlich geringeren Effekt. Die Privatisierung staatlicher Unternehmen hingegen hat mit 2 Standardabweichungen im einfachsten Modell den deutlichsten Impact. Dem gegenüber steht, dass durch den IWF initiierte Gesetze gegen Korruption und Geldwäsche die Kapitalflucht um 0,9 Standardabweichungen verringern. Die Ergebnisse folgen damit den aufgestellten Hypothesen, dass die Antikorruptionsgesetze die Kapitalflucht behindern, während Liberalisierungen, Marktöffnungen und Privatisierungen die Kapitalflucht verstärken, wobei die Wirkung auf die Kapitalflucht deutlich überwiegt.
Diskussion
Es scheint eine Farce zu sein. 2016 warnte der IWF davor, dass Kapitalflucht zu einem massiven Problem der Schwellen- und Entwicklungsländer werden könnte (Link). Die vorliegende Studie zeigt aber: der Motor hinter der Kapitalflucht ist der IWF selbst. Was die Studie leider nicht beantworten kann, ist die nach der Epistemologie. Ist der IWF ein Instrument der imperialistischen Länder, um das Kapital aus der Peripherie abzuziehen oder unterliegt der IWF einfach einer falschen Theorie über die Wirkung der Liberalisierungsmaßnahmen und verschuldet die Kapitalflucht nur aus Versehen?
Für letzteres spricht, dass geflohenes Kapital dem ideellen Gesamtimperialisten erst einmal wenig nützt. Dem Kapitalexport, für den der IWF die Märkte geöffnet hat, geht ja bereits eine Überakkumulation an Kapital voraus, sodass es an einem garantiert nicht fehlt: Geldkapital. Dafür wird riskiert, dass durch die Kapitalflucht und den absehbaren Protest dagegen politische Systeme in der Peripherie destabilisiert werden und weder eine Rückzahlung der Kredite (das ist noch ein verkraftbarer Schaden) noch eine verlässliche Ausbeutung der Ressourcen (Näheres hier zum Südsudan) möglich ist.
Die Gegentendenzen liegen aber ebenso auf der Hand. Im globalen Süden mangelt es im Gegensatz zu den imperialistischen Staaten schon an Geldkapital, mit dem eine Klasse Produktionsmittel kaufen und damit eine nationale Bourgeoisie aufbauen könnte. Gerade eine daraus folgende politische Stabilität könnte dann zu einer Begrenzung der Verfügungsmacht ausländischen Kapitals führen. Es ist daher gar nicht so verkehrt im Sinne der imperialistischen Mächte, wenn der IWF über beide Mittel verfügt: Kapitalflucht anzutreiben oder einzudämmen. Abhängige Staaten können dadurch ein einem fein ausbalancierten Gleichgewicht zwischen politischer Stabilität und ökonomischer Abhängigkeit gehalten werden, die es dem Monopolkapital erlaubt, größtmögliche Gewinne zu erzielen. Die Kausalität kann daher genau andersherum gelesen werden. Dass der IWF als Werkzeug imperialistischer Interessen eher Kapitalflucht befördert als behindert, offenbart das Interesse, periphere Staaten eher zu destabilisieren und abhängiger zu machen, was zur allgemeinen Verschärfung der globalen Widersprüche passt.
Literatur:
Nosrati, E.; Kern, A.; Reinsberg, B. & Sevinc, D. (2024): Structural adjustment and the political economy of capital flight. In: Socio-Economic Review. Jahrgang 22. Ausgabe 3. S.1047–1070.