Turn over Turnover Time

⋄ Probleme der Zirkulationssphäre und insbesondere der Umschlagszeiten des Kapitals genießen nach hundertjähriger Vernachlässigung zunehmendes Interesse in der marxistischen Diskussion.

⋄ Guido De Marco hat auf Grundlage eines Manuskripts von Karl Marx zum zweiten Kapitalband das Konzept der profitbereinigenden Zerlegung des Kapitals eingeführt.

⋄ Grundlage ist die Unterscheidung zwischen einer realen Mehrwertrate für einen Verwertungsprozess und einer jährlichen, die durch die Umschlagszeiten des Kapitals beeinflusst wird.


⋄ Die Umschlagszeit ist somit ein zweiter Hebel neben der organischen Zusammensetzung, um die Profitrate bei gleicher realer Mehrwertrate zu beeinflussen.


⋄ Da ein Großteil des Kapitals fix in Maschinen und Gebäuden angelegt ist, ist die Umschlagszeit sogar wesentlicher Faktor der Profitratenangleichung.

Mit manchen Prognosen hatte Friedrich Engels schlicht Unrecht. Nachdem er aus den Manuskripten von Marx den zweiten Band des Kapitals zusammengestellt hatte, meinte er: „Der 2. Band wird große Enttäuschung erregen, weil er so rein wissenschaftlich ist und nicht viel Agitatorisches enthält.“ Mal davon abgesehen, dass sich auf Grundlage der Reproduktionsschemata und im Anschluss an Rosa Luxemburg eine lebendige Debatte um die Herleitung des Imperialismus – oder moderner des Patriarchats und der Umweltkrise – entfachte, kommt die marxistische Forschung immer weniger daran vorbei, die zeitliche Dimension des Kapitals zur Erklärung der ökonomischen Wirkungsweise der bürgerlichen Herrschaft zu beachten. Die gesamte Reproduktion des Kapitals ist die Grundlage, auf der Gesellschaften, aber auch der Imperialismus erklärt werden müssen, und diese basiert nun mal auf der Einheit von Produktion und Zirkulation.

Guido de Marco analysierte im 39. Jahresband der Emerald Research in Political Economy
in Anschluss an Fred Moseley ein Manuskript, dass Marx für die Erstellung des zweiten und dritten Kapital-Bandes anfertigte und auf dessen Grundlage Engels die Bände zusammenstellte. Er diskutierte, wie die organische Zusammensetzung und Umschlagszeit sich auf die Profitraten auswirken und was Kapitalisten wirklich tun können, um ihr Kapital höchstmöglich zu verwerten. Er folgt dabei einem Ansatz, der Schule macht.

Reale und jährliche Profitrate

Ausgangspunkt für die Überlegungen De Marcos war die kommentierte Veröffentlichung eines ökonomischen Manuskriptes von Marx aus den Jahren 1867 und 1868, welches im Zuge der Arbeiten zum zweiten Band des Kapitals entstand. Vorgestellt wurde es von Fred Moseley, der in diesem neues Quellenmaterial für seine Neue Interpretation des Transformationsproblem vermutete. Nach Moseley gäbe es deshalb kein Einheitenproblem bei der Marxschen Transformation von Werten in Preise, weil der Produktionsmittel und Arbeitskraft ja mit Geld bezahlt wurden, aber zu einem vorangegangenen Zeitpunkt, als die Realisierung der Werte in Preise. Wert und Mehrwert seien nur makroökonomisch sinnvoll fassbar, während für die mikroökonomisch arbeitenden einzelnen Firmen die Preise und die Verteilung des Werts über die Durchschnittsprofitrate von Bedeutung seien. Moseley nennt sein Verfahren sequentiell, was bedeutet, dass der zeitliche Unterschied des Kauf der Produktionsmittel und der Arbeitskraft vom Verkauf der Ware eine logische Rolle spielt. Das besagte Manuskript beinhaltete Überlegungen zur Umschlagszeit des Gesamtkapitals, was Moseley für seine These als passend empfand. Nachzulesen ist das Manuskript übrigens in der digitalen Ausgabe der MEGA² (siehe hier).

De Marco möchte jedoch einen anderen Punkt aus dem Manuskript stark machen, nämlich Marxens Betrachtung der Umschlagszeit und ihre Rolle in einem Prozess, den De Marco die „profitbereinigende Zerlegung“ des Kapitals ist. Ähnlich wie Moseley betrachtet De Marco den kapitalistischen Verwertungsprozess als Einheit von Produktion und Zirkulation, der einmal den Formwandel G-W…P…W’…G’ durchlaufen muss, um abgeschlossen zu sein. Für den Profit

spielten dabei drei wesentliche Faktoren eine Rolle. Die Mehrwertrate m/v, die organische Zusammensetzung c/v und die Umschlagszeit. Die Umschlagszeit ist dabei bei jedem Kapital verschieden, gemessen werden die Profitraten in der Realität jedoch meist anhand einer natürlichen Zeiteinheit wie Tag oder Jahr. Es ist daher zwischen einer realen und einer jährlichen Mehrwertrate bzw. Profitrate zu unterscheiden, was erst einmal für Messprobleme relevant ist, wenn entschieden werden muss, welches Kapital als zirkulierendes Kapital in den Kostpreis mit eingeht und wie das fixe Kapital seinen Wert überträgt. Prinzipiell ist es dem Kapitalisten jedoch egal, ob sein Kapital einmal jährlich oder einmal wöchentlich umschlägt, solange die jährliche Profitrate wenigstens der Durchschnittsprofitrate entspricht.

Zur profitbereinigenden Zerlegung des Kapitals

De Marco versucht nun, den Unterschied zwischen realer und jährlicher Mehrwertrate algebraisch zu fassen. Variablen in Großbuchstaben beziehen sich dabei auf jährliche Größen und die kleingeschriebenen auf die realen Größen. Die Anzahl aller Umschläge des Kapitals im Jahr n ist dabei zunächst gegeben als

.

Unter der Annahme, dass die Mehrwertrate s während eines Jahres gleich bleibt, bestimmt sich die die reale Mehrwertrate aus s=S/V und die reale Profitrate r wäre demgemäß

Hier ist wichtig, dass die die jährliche Mehrwertrate nicht nur von der realen Mehrwertrate abhängt, sondern auch von der Häufigkeit der Umschläge, was zeigt, dass die Zirkulation erheblichen Einfluss auf die Größen in der Produktion hat. Der zweite Punkt ist der, dass die Transformation der Werte in Preise sich nur unter Bezugnahme auf eine gemeinsame zeitliche Größe vollziehen kann und daher nicht einfach die realen organischen Zusammensetzungen und Mehrwertraten herangezogen werden können, sondern nur die jährlichen. Lange Zeit wurde diese Unterscheidung eher als Quelle einer weiteren Aufweichung einer uniformen Profitrate und damit unnötige neue Komplikation angesehen. Aber De Marco zieht den umgekehrten Schluss und stellt im Folgenden dar, wie die Umschlagszeit zur Uniformierung der Profitrate beiträgt.

Individuelle Kapitale und Gesamtkapital

Wie Marx ausdrücklich erwähnte, sind die einzelnen Profitraten der Kapitale notwendig von der Durchschnittsprofitrate unterschieden. Im Folgenden werden die Größen, die sich auf Einzelkapitale beziehen, mit einem Unter-i dargestellt. Jedes individuelle Unternehmen hat zunächst einmal individuelle Ausgaben, den Kostpreis K, und verkauft zu den Produktionspreise P, auf die es erwartet, wenigstens die Durchschnittsprofitrate r zu erhalten:

Der Wert W, der innerhalb eines Unternehmens durch den Wert den Produktionsmittel und den Neuwert der Arbeit geschaffen wurde, berechnet sich individuell mit:

De Marco nennt nun die Differenz aus Wert innerhalb eines Unternehmens und dem Wert über die makroökonomische Profitrate die Profitkorrektur A:

Der kritische Punkt in der Interpretation folgt nun, wenn für r die jeweiligen Profitraten für das individuelle Unternehmen und die Gesamtgesellschaft eingesetzt wird. Hier wird nämlich die gleiche reale Mehrwertrate angenommen. Diese Annahme bedarf einer kurzen Erläuterung. Fred Moseley sagt in seiner New Interpretation, dass sämtlicher Neuwert im Produktionsprozess gebildet werde. Damit kann man sich sehr leicht als Marxist einverstanden zeigen. Da weiterhin der gesamte Profit einer Ökonomie den gesamten Neuwert abbilde, die verschiedenen Profitraten der Einzelkapitale aber erst in der Zirkulation definiert würden, schließt er, dass man die unterschiedlichen Profitraten nicht aus der Mehrwertbildung, sondern der Verteilung des Mehrwerts unter die Einzelkapitale ableiten könne und vernünftigerweise eine einheitliche Mehrwertrate unterstellen solle. Auch wenn es gute Gründe für die Annahme einer einheitlichen Mehrwertrate gibt (Näheres hier), ist diese Annahme dennoch recht gewagt.

Korrekturen der Profitrate

Setzt man nun die Gleichung für die Profitrate in den entsprechenden Term der Profitkorrektur ein

und stellt dann ein wenig um, zeigen sich drei verschiedene Korrekturterme der individuellen Profitraten zur Durchschnittsprofitrate:

Die Abweichung der individuellen Profitrate von der Durchschnittsprofitrate lässt sich also einerseits durch die organische Zusammensetzung erklären, aber andererseits auch durch die unterschiedlichen Umschlagszeiten bzw. einer Mischung aus beiden.

Eine solche Betrachtung hat nun einige Konsequenzen für die Art und Weise, wie die Profitrate real gebildet wird. Zwei Vorstellungen gehen dabei an der Wirklichkeit vorbei. Die erste ist die Moseleys, dass die gesamtgesellschaftliche Profitrate feststünde und die Kapitalisten während der Produktion versuchen würden, diese zu erreichen, wobei sich die Abweichungen als eine Art Hintergrundrauschen ergeben, weil ihre Kalkulationen ungenau sind. Kapitalisten versuchen aber immer, ihre Profitrate zu maximieren. Und die zweite Vorstellung ist die, dass es quasi einen Pool an Kapital gäbe, das recht frei zwischen den einzelnen Sektoren wechseln könne, in die Märkte mit hoher Profitrate ströme und sich aus Märkten mit niedriger zurückzöge. Das ist falsch, weil ein Großteil des Kapitals im fixen Kapital angelegt und daher nicht mobil ist.

Einheit von Produktion und Zirkulation

De Marco spricht sich für eine realistischere Vorstellung des Angleichungsprozesses der Profitraten aus. Das entscheidende für den Kapitalisten sei schließlich nicht, eine möglichst hohe organische Zusammensetzung zu haben, sondern mit dieser eine höhere Produktivität zu erreichen, wodurch die Umlaufgeschwindigkeit erhöht wird und die jährliche Mehrwertrate bei gleichbleibender realer Mehrwertrate ebenfalls steigt. Die organische Zusammensetzung, deren Erhöhung die individuelle Profitrate theoretisch senken würde, gleicht also nicht automatisch die Profitrate wieder aus, sondern nur dann, wenn sie die Umlaufzeit so erhöht, dass sich die jährliche Mehrwertrate erhöht. Dass Marx diesen Prozess in seinem Transformationsschema abgekürzt darstellt, hat den Anlass zu unrealistischen Annahmen über die Durchschnittsprofitrate geführt, aber sowohl in den Manuskripten als auch im zweiten und dritten Kapitalband oder in den Theorien über den Mehrwert findet sich hinreichendes Material, um eine solche Interpretation zu stützen.

Darüber hinaus darf die Rolle des Handelskapitals für den Ausgleich der Profitraten nicht unterschätzt werden. Da das fixe Kapital eben nicht so mobil ist, dass es einfach in profitablere Sektoren wandern kann, sind die Kapitalisten auf andere Wege angewiesen, um ihre Profitrate zu beeinflussen. Die Senkung der Umschlagszeit ist dabei die große Stellschraube, insbesondere, wenn viel Kapital fix angelegt ist. Allerdings kann die Produktionszeit nicht kleiner werden als die Summe aus Produktions- und Zirkulationszeit, da sonst der Kapitalist allmählich nur unverkaufte Waren, aber kein Geld akkumulieren würde. Um die individuelle Profitrate zu steigern, müsste also die Zirkulationszeit minimiert und am besten gegen Null gedrückt werden. Onlinehandel, On-Demand-Produktion, Flexibilisierung der Arbeit oder kreditfinanzierter Konsum sind dabei nur einige Talking Points, die das Kapital für diesen Sachverhalt in die Welt setzt. Kein Wunder, dass sich das Kapital dies einiges Kosten lässt. Investitionen in die Zirkulation sind also nicht per se unproduktiv, sondern nur in Bezug die reale Mehrwert- und Profitrate. Für die jährliche, leichter messbare und praktisch relevante Profitrate beeinflusst die Zirkulation die Akkumulation ungemein.

Zusammenfassung

Die zunehmende Aufmerksamkeit, welche die Zirkulationsgeschwindigkeit in der marxistischen Literatur erhält, ist äußerst begrüßenswert. Nicht nur nimmt die temporale Interpretation der Kapitalverwertung den Prozesscharakter des Kapitals ernster als viele ältere Vorstellungen. Die Theorie nähert sich auch immer weiter den realen und beobachtbaren Prozessen an. De Marcos Konzept der profitbereinigenden Zerlegung des Kapitals ist sicherlich noch nicht ausgereift und denkt die zeitliche Zerlegung der einzelnen Verwertungsschritte noch nicht konsequent genug zu Ende. Ein wenig fehlt auch noch die Charakterisierung, welche Erscheinung die Profitangleichung über die Umschlagszeit an der beobachtbaren Oberfläche annimmt. Aber der Drive geht in die richtige Richtung. Der Marxismus des 21. Jahrhunderts könnte ein temporaler Marxismus werden. Die Erkenntnis, dass zwar das produktive Proletariat allen Neuwert schafft, die Zirkulationsarbeiter*innen aber wesentlich beeinflussen, wie stark die Profitrate fällt oder steigt, sollte auch die Arbeitskämpfe und das revolutionäre Potential in der Zirkulationssphäre wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses stellen.

Literatur:

De Marco, G. (2023): Turnover Time and Marx’s Decomposition of Profit Adjustment. In: Research in Political Economy. Jahrgang 39. S.145–165.

Ein Kommentar

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert