⋄ Die Länge des Arbeitstages ist global ein zentraler Punkt des Klassenkampfes. In Deutschland soll die Arbeitszeit wieder verlängert werden, in Chile wurde sie erst kürzlich reduziert. ⋄ Doch warum hat ausgerechnet eine rechte Regierung den Gesetzesentwurf zweier kommunistischer Abgeordneter aufgegriffen? ⋄ Gonzalo Durán und Michael Stanton haben das Gesetz in der International Critical Thought marxistisch analysiert. ⋄ Die verkürzte Arbeitszeit ging mit einer zunehmenden Flexibilisierung einher, sodass die Kapitalisten die Arbeitskraft pausenloser und intensiver nutzen konnten. ⋄ Mit einer geometrischen Darstellung des Wertgesetzes zeigten die Autoren, dass dank der Arbeitszeitverkürzung die Profitrate seit 2014 sogar gehalten werden konnte. |
In Zeiten des von der Bourgeoisie ausgerufenen Fachkräftemangels tritt eine Bestimmung wieder an die gesellschaftliche Oberfläche, die Karl Marx bereits im ersten Kapital-Band feststellte: im Wesen ist jeder Klassenkampf ein Kampf um die Länge des Arbeitstages. Während die Gewerkschaften mit Blick die Überlastung der Belegschaften in jedem Tarifstreit immer wieder auf Arbeitszeitreduzierung pochen, fordern die Parteien der Kapitalisten CDU, FDP und AfD die Abschaffung der 40-Stunden-Woche, wobei diese mit Steuernachlässen und mehr „Flexibilität“ schmackhaft gemacht werden soll. Es ist also zu erwarten, dass eine Nachfolgeregierung der Ampel ab 2025 zum erneuten Schlag gegen einen der historischen Siege des deutschen Proletariats ausholen wird.
In Chile wird gerade der umgekehrte Weg beschritten. Ein Gesetz reduziert hier bis 2028 den durchschnittlichen Arbeitstag von 9 auf 8 Stunden. Gonzalo Durán und Michael Stanton schauten sich dieses in der International Critical Thought genauer an. Ihre Studie ist dabei ein Musterbeispiel, wie bürgerliche Gesetzentwürfe fundiert durch die marxistische Kritik der politischen Ökonomie analysiert werden können.
Arbeitsintensität und -produktivität
Im ersten Kapitalband stellt Marx dar, dass der Arbeitstag in zwei Teile zerfällt. In einem Teil des Arbeitstages schafft die Arbeiter*in den Wert, den sie für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigt. Diese Zeit nennt Marx die notwendige Arbeitszeit. Im zweiten Teil – der Mehrarbeitszeit – produziert sie den Wert, den sich der Kapitalist als Mehrwert dafür aneignet, dass er die Produktionsmittel besitzt. Das Verhältnis von Mehrarbeits- zu notwendiger Arbeitszeit heißt Mehrwertrate oder Ausbeutungsrate. Wird die Mehrarbeitszeit durch die notwendige Arbeitszeit und die in den Produktionsmitteln vergegenständlichten Arbeitszeit geteilt, erhält man die Profitrate. Wichtig ist, dass hierbei immer von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit gesprochen wird, also der durchschnittlichen Arbeitszeit zur HerstellungWare, die auf einem bestimmten Niveau an Produktionsmitteln verallgemeinert ist.
Da die notwendige Arbeitszeit nicht dauerhaft unterschritten werden kann, außer der Kapitalist befände sich in der historisch günstigen Situation, die Arbeiter*innen einfach verbrauchen zu können, ist jede Verringerung des Arbeitstages im luftleeren Raum als Verringerung der Mehrwert- und Profitrate zu betrachten. Dennoch gibt es zwei Möglichkeiten, die Pofitrate trotz Verringerung der Arbeitszeit zu zu halten: durch Steigerung der Produktivität der Arbeit oder Steigerung ihrer Intensität. Die Intensität der Arbeit lässt sich etwa steigern, wenn unnötige Pausenzeiten identifiziert und gekürzt werden, wenn ein Fließband schneller rollt oder wenn Produktionsnormen innerhalb der festgelegten Arbeitszeit erhöht werden. Die Steigerung der Produktivität resultiert selten aus der Umgestaltung der Betriebsabläufe, meist jedoch aus der Anschaffung neuer Maschinen, die zeitintensive Arbeitsprozesse ersetzen und beschleunigen. Die Arbeiter*in muss durch eine neue Maschine keine Intensitätssteigerung erfahren, in der Realität sind die beiden Größen jedoch schwer voneinander zu trennen.
Allerdings haben sowohl die Steigerung der Intensität als auch der Produktivität jeweils ihre Opportunitätskosten. Durch die Steigerung der Intensität der Arbeit wird auch die Arbeitskraft schneller vernutzt, sodass sie entweder besser bezahlt werden muss, um Hausarbeiten selbst maschinisieren oder als Lohnarbeit auslagern zu können oder die Arbeitszeit reduziert werden muss. Die Steigerung der Produktivität setzt Investitionen in den Maschinenpark voraus, sodass nur lebendige wertschaffende Arbeit durch bereits vergegenständlichte ersetzt wird. Ohne mehr Mehrwert zu schaffen, steigen die Kosten, sodass auch hier die Profitrate pro Kapitalumschlag fällt und nur durch die Verkürzung der Produktionszeit ausgeglichen werden kann.
Arbeitszeitgesetz in Chile
2017 brachten zwei chilenische Kommunisten im Parlament einen Gesetzesentwurf ein, der die Reduzierung der Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden in der Woche vorsah. Der Entwurf wurde zwar abgelehnt, entfachte jedoch ausgerechnet unter der neuen Rechtsregierung ab 2018 eine Debatte. Verständlich ist hierbei, dass diese den Entwurf nicht aus Gründen der Arbeiter*innenbeglückung aufnahm. Die chilenische Ökonomie ist kaum durch Jobs in der Industrie mit klassischen Schichtzeiten geprägt, die nur etwa 10% alles Erwerbstätigen erfasst und für die eine Arbeitszeitreduzierung eine leicht nachvollziehbare Verbesserung wäre. Der Handel ist mit 20% führend in einem relativ großen privaten und stark fragmentierten Dienstleistungssektor. Das neoliberale Freiluftexperiment, welches in der Pinochet-Diktatur begonnen wurde, beeinflusst die Ökonomie bis heute und hat sogar dazu geführt, dass selbst das Gesetz über den 45-Stundentag eine zu rigide Schranke für den Bedarf an flexibler Arbeit darstellt. Hinzu kommt, dass der Durchschnittslohn ca. 80 Dollar unterhalb der Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt, sodass 55% aller Arbeiter*innen auf zwei Einkommen angewiesen sind, wobei sie auf eine nur schwach ausgebaute öffentliche Betreuungsstruktur zurückgreifen können.
Die schrittweise Reduzierung des Normalarbeitstages von 45 Stunden auf 44 im Jahr 2024, 42 im Jahr 2026 und 40 im Jahr 2028 war hierbei nur der Aufhänger des Gesetzes, auch wenn diese Reduzierung zunächst einmal eine große Verbesserung der Lage der Arbeiter*innen darstellt. Bereits im zweiten Passus des Gesetzes darf die Arbeitswoche auch wieder bei 45 Stunden liegen, wenn die Stunden über den Monat verteilt wieder ausgeglichen werden. Dies unterliegt bilateralen Vereinbarungen zwischen Bourgeois und Arbeiter*in, wobei nur 13% des chilenischen Proletariats einer Gewerkschaft angehören. Mit Gewerkschaften zusammen können bei entsprechendem Zeitausgleich über den Monat sogar 52-Stunden-Wochen ausgehandelt werden. Für Familien ohne Zugang zu einem passenden öffentlichen Betreuungsangebot für die Kinder wären sogar noch weitere Flexibilisierungsmöglichkeiten vorhanden.
Drei weitere Artikel kennzeichnen dann den wirtschaftsfreundlichen Charakter des Gesetzes. Ausgeschlossen von der Regelung sind nicht bezahlte Überstunden oder Überstunden, welche über ein separates Verrechnungssystem langfristig zeitlich ausgeglichen werden (etwa Saisonarbeit). Um betriebliche Abläufe besser koordinieren zu können, ist es zweitens erlaubt, eine unbezahlte Mittagspause von 4 Stunden einzuführen. Und drittens werden die Regelungen nicht entsprechend für Teilzeitjobs angepasst. Das Gesetz zeigt uns also zwei Gesichter. Einmal eine Reduzierung der Gesamtarbeitszeit und damit die Reduzierung des absoluten Mehrwerts und einmal die Einführung diverser Instrumente zur Flexibilisierung der Arbeit, wodurch der Kapitalist die Arbeit intensiver nutzen kann und den relativen Mehrwert steigern kann.
Marxistische Analyse
Dass die Intensivierung der Arbeitskraft für die Arbeiter*in ein Problem darstellt, wurde bereits besprochen, schließlich vernutzt sie ihre Arbeitskraft schneller und braucht mehr Mittel zur Reproduktion. Das neue Gesetz stellt also eher den Beginn des neuen Klassenkampfes um die Nutzung der Arbeitszeit dar als das Ende des alten um die Reduzierung des Arbeitstages auf 40 Stunden. Insbesondere, wenn man den Klassenkampf revolutionär weitertreiben möchte, muss man verstehen, ab welcher Konfiguration der Kapitalistenprofit wirklich zu Gunsten der Arbeiter*innenklasse angetastet wird. Die Autoren wollen dies in einer geometrischen Darstellung der Funktionsweise des Gesetzes deutlich machen, die an Marta Harnecker, Carlos Pérez-Soto und das Ökonomengespann Guglielmo Carchedi und Michael Roberts anschließt.
Zunächst einmal bildet das konstante Kapital hier die Basis des Werts, dessen Wert nach Marx ja einfach nur unter stofflicher Formwandlung übertragen wird. Das variable Kapital, also die Arbeitskraft steigert mit zunehmender Dauer den Wert der Waren. Wird die Grenze A-B erreicht, dann hat die Arbeitskraft genau so viel Wert geschaffen, wie sie zur eigenen Reproduktion braucht. Alles darüber hinaus ist die Arbeitszeit, die sich der Kapitalist als Mehrarbeit aneignet. Natürlich wurden hier einige vereinfachende Annahmen getroffen. So erzeugt natürlich das variable Kapital nicht konstant Mehrwert, sondern die Arbeitsintensität wankt meist innerhalb der Arbeitszeit. Zudem ist die reine Wertübertragung des konstanten Kapitals insofern umstritten, als dass ein zu langer Arbeitsprozess die Produktionsmittel moralisch verschleißt und damit nicht den vollen Wert übertragen kann.
Was das Gesetz nun tut, ist, die Strecke B-C zu verkürzen, was zu einer Verringerung des Mehrwerts des Kapitalisten, aber eben nicht zu einer Verringerung des zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft notwendigen Werts führt. Das Kalkül der Kapitalfraktionen ist nun, dass eine Verkürzung der Arbeits- und damit eine Verlängerung der Reproduktionszeit der Ware Arbeitskraft zu einer höheren möglichen Intensität führt, da die Arbeiter*innen ausgeruhter sind, während nur die letzten, ohnehin weniger intensiven Arbeitsstunden gekürzt werden. Die Kapitalisten hoffen also auf einen Anstieg der Wertschaffungskurve, wie sie hier gestrichelt dargestellt ist.
Interessant ist auch der Passus, dass die Flexibiltät der Arbeitszeit bei gewerkschaftlicher Vertretung größer ist. Der Vorteil für die Bourgeoisie liegt auf der Hand. Die Arbeit kann noch besser nur dann genutzt, werden, wenn sie gebraucht wird; lange in Phasen der Konjunktur, kurz in Zeiten der Flaute. Aber was sollte eigentlich die Gewerkschaften dazu bewegen, einer weiteren Flexibilisierung zuzustimmen? Tatsächlich erhöht sich durch die intensivere Nutzung der Arbeit und dem damit einhergehenden Mehrwert die Marge innerhalb der der Kapitalist über höhere Löhne verhandeln kann, ohne die anfängliche Profitrate zu unterschreiten. Das wird in folgendem Diagramm deutlich.
Im Vergleich zum Fall 1 vor der Flexibilisierung des Gesetzes wurde die Mehrwertrate im Fall 2 deutlich erhöht. Damit kann die Gewerkschaft aber auch im Fall 3 einen höheren (Real)Lohn verlangen; ohne, dass die Profitrate auf ihr Ausgangsniveau zurückfiele. Dass es dem Kapital tatsächlich um eine Intensivierung der Arbeit ging, kann man auch an Hand der Gegenprobe Teilzeitarbeit plausibel machen. Teilzeitarbeit kann bereits sehr intensiv genutzt werden, da sie in der Regel schon flexibel gestaltet ist und mehr Zeit zur Regeneration lassen.
Kleiner empirischer Exkurs
Als kleinen Schmankerl haben die beiden Autoren die geometrische Darstellung nicht nur als reine Visualisierung benutzt, sondern sie mit empirischen Werten besetzt, wobei die Daten aus einer früheren Ausarbeitung der beiden Autoren stammte, auf die im Paper nur verwiesen wurde. Sie vergleichen hier die Jahre 2004, als die Normalarbeitswoche noch 48 Stunden betrug, mit dem Jahr 2018, als bereits die 45-Stunden-Woche galt.
Während das konstante Kapital auf mehr als das Doppelte gewachsen ist, haben die Reallöhne nur um ein Drittel zugelegt. Das führt zu einer beeindruckenden Entwicklung der Mehrwertrate. Betrug diese 2004 nur 93% – ein*e chilenische*r Arbeiter*in arbeitete also länger für sich selbst als für den Kapitalisten -, stieg diese auf 140% im Jahr 2018 an. Damit konnte die Tendenz der Durchschnittsprofitrate bei wachsendem Anteil an konstantem Kapital gegenüber dem variablen zu fallen, nicht nur aufgehalten, sondern sogar leicht umgekehrt werden. Es zeigt sich hier auch, dass steigende Produktivität und Intensität nicht sauber voneinander getrennt werden können. Sowohl steigende Ausgaben für Produktionsmittel als auch höhere Reallöhne sind Indizien für eine Kombination aus beiden Prozessen. Ebenfalls interessant ist, dass die Armutsquote im betrachteten Zeitraum von 35% auf unter 10% fiel, während die Ausbeutung um 50% stieg.
Zusammenfassung
Anhand der Untersuchung von Gonzalo Durán und Michael Stanton kann man sehr einfach einen Unterschied festmachen, der auch in Deutschland kontrovers diskutiert wird: Was ist noch Sozialpartnerschaft und ab wann beginnt der Klassenkampf? In Chile wurde die Arbeitszeit zwischen 2004 und 2018 sozialpartnerschaftlich reduziert. Die Reallöhne stiegen zwar, was teilweise auch auf billig importierte Waren aus China zurückzuführen ist, bei sinkender Arbeitszeit, aber der Anteil des Arbeitstages, der für den Kapitalisten gearbeitet wird, hat sich massiv ausgeweitet. Obwohl chilenische Arbeiter*innen absolut drei Stunden weniger pro Woche arbeiteten, haben sie drei Stunden mehr pro Woche für den Kapitalisten gearbeitet. Man kann die Kurve entlangfahren, um zu dem Punkt zu kommen, an die ursprüngliche Mehrwertrate erhalten bleibt und dort den Lohn ablesen, aber dem wirklich der Klassenkampf um die Länge des Arbeitstages beginnen würde. An diesem Punkt würde bereits die Profitrate auch signifikant sinken. Die Autoren machen aber auch klar, dass nicht alleine die absolute Länge des Arbeitstages für Arbeiter*innen und Kapitalisten relevant ist, sondern auch die Intensität der Nutzung, die Preise der Reproduktionsmittel der Arbeitskraft und natürlich die organische Zusammensetzung.
Das ist alles nicht besonders neu, wenn auch die geometrische Darstellungsform recht elegant ist. Den Charme der Studie macht die systemische Analyse eines Gesetzes mit Hilfe der entsprechenden Grundlagen aus dem Kapital aus, die politische Analyse mit der Kritik der politischen Ökonomie verbinden. Ähnliche Analysen wären auch für Deutschland recht spannend, um neue Klassenkampflinien aufzuzeigen.
Literatur:
Durán, G. & Stanton, M. (2024): Reductions in the Working Week: Labour Intensity and Productivity in Chile from a Marxist Perspective. In: International Critical Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2024.2364160