⋄ Um das Transformationsproblem, also die Marxsche Umwandlung von Werten in Preise, hat sich ein ganzer Zoo von Lösungen gebildet: SI, NI, TSSI, MMI, monetäre Werttheorie, … . ⋄ Mohsen Ghamin aus Teheran legte mit Kollegen zusammen nun eine Interpretation vor, die man als Temporal Dual System Interpretation bezeichnen könnte. ⋄ Diese soll auf der einen Seite die vermeintlichen Inkonsistenzen der Übertragung des Marxschen Algorithmus in ein Gleichungssystem durch von Bortkiewicz beseitigen. ⋄ Auf der anderen Seite soll sie die zugrunde liegenden Prozesse in der politischen Ökonomie realitätsnäher beschreiben als rein mathematische Lösungen. ⋄ Kern sind die Gleichbehandlung der lebendigen und der toten Arbeit nach Abschluss des Produktionsprozeses und die Unterscheidung der verschiedenen Abstraktionsebenen. |
Das so genannte Transformationsproblem – die Frage nach der Transformation der Werte in Preise nach dem Marxschen Preisbildungsalgorithmus – wäre ja recht einfach und erträglich, wenn man sich wenigstens über das Problem einig wäre. Das ist aber nicht der Fall. Manche behaupten sogar, dass das Transformationsproblem gar nicht existiere. Die verschiedenen Ansätze kann man sich als eine Art 2×2-Matrix vorstellen, in der einmal unterschieden wird, ob Autoren Werte und Preise prinzipiell für das gleiche halten (Single oder Dual System) und einmal, ob Autoren der Meinung sind, Werte und Preise ließen sich über ein großes Gleichungssystem ausrechnen oder nicht (Simultanious oder Temporal Systems). Manche sagen also, dass Preise und Werte verschiedene Dinge seien und sich über solch ein System lösen ließen. Andere sagen, Werte und Preise seien das Gleiche, weshalb die Lösung bereits im Preis stecke. Noch andere sagen, dass Werte und Preise zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Rollen das Gleiche seien. Wir haben also eine Simultanious Dual System Interpretation, eine Simultanious Single System Interpretation, eine Temporal Single System Interpretation und es fehlt noch … eine Temporal Dual System Interpretation.
Mohsen Ghamin legte nun gemeinsam mit drei Professoren aus Teheran in der World Review of Political Economy eine solche vor. Ghamin wurde vom iranischen Regime bereits 2008 als Mitglied einer linken Studierendengruppe festgenommen und zunächst gegen Kaution freigelassen. Nach den Studierendenprotesten gegen die Wiederwahl Ahmadinedschads zum iranischen Staatspräsidenten und den einhergehenden Betrugsvorwürfen, wurde er 2009 erneut festgenommen und erst 2011 mit rund 70 Mitgefangenen wieder aus dem berüchtigten SAVAK-Gefängnis in Evin freigelassen. Das nun veröffentlichte Paper Temporality and Stratification in the Transformation of Value into Price ist die erste englischsprachige Veröffentlichung Ghamins.
Die Grundidee: Zwei Systeme, aber realistischer
Zum Transformationsproblem:. Eigentlich wollte der russische Ökonom Ladislaus von Bortkiewicz durch seine Formulierung des Marxschen Preisbildungsmechanismus aus dem dritten Kapital in einem Gleichungssystem zeigen, dass Marx grundlegende Fehler bei der Transformation von Werten in Preise begangen habe. Nachdem Paul Sweezy diese Kritik neu popularisiert hatte, bildete sich eine Debatte um die Lösung des aufgestellten Problems heraus. Viele marxistische Akademiker glaubten, durch die Auswahl passender Invarianzpostulate – also Erhaltungssätze, wie die Summe aller Werte entspricht Summe aller Preise oder die Summe aller Profite entspricht der Summe aller Mehrwerte, etc. – das aufgestellte Gleichungssystem lösen zu können. Mit der Entwicklung der Computertechnologie wurde es sogar möglich, über Input-Output-Tabellen, die entsprechenden Resultate empirisch zu überprüfen und tatsächlich ließen sich beispielsweise über iterative Methoden die Preise sehr gut aus den Arbeitszeiten ableiten. Das Problem war: auch wenn die Algorithmen schön funktionierten, mangelte es ihnen doch an Realismus. Die mathematischen Prozeduren entsprachen nur mit viel Fantasie Vorgängen in der realen Ökonomie.
Das beklagte auch die Temporal Single System Interpretation, die mehr Wert darauf legte, wann bestimmte Prozesse stattfinden und wann Werte in ihrer Preisform vorliegen, sodass man sie einfach messen und unbekannte Größen daraus ableiten kann. Die Wert-Preis-Transformationen wurden dabei eng an die realen Prozesse angelehnt und auch wieder verstärkter Wert auf dialektische Verlaufsformen gelegt, die mit den Mitteln der formalen Logik nicht zu erfassen sind. Allerdings fristet die TSSI bis dato eher ein Außenseiterleben und gewinnt nur langsam an Popularität, etwa in Südamerika. Daher fehlte bisher das Potential, interne Widersprüche befriedigend zu klären oder die empirische Verarbeitung auszufeilen. Die Idee Ghamins drängt sich daher ganz von selbst auf: Könnte man die empirisch erfolgreichen Algorithmen der Simultanious Dual System Interpretationen nicht mit dem Realismus und der philosophischen Tiefe der temporalen Interpretation verbinden?
Nicht-lineares Konzept der Zeit und lineare mathematische Lösungen
Der Schlüssel in Ghamins Gedanke ist, dass nach erfolgter Produktion lebendige und tote Arbeit in der selben Form in der hergestellten Ware vorlägen. Er interpretiert damit die abstrakte Arbeit als die Schaffung einer vereinigten Vergangenheit von Produktionsmitteln als bereits vergegenständlichter Arbeit und der lebendigen Arbeit, welche die letztendliche Ware schafft. Liege die Ware einmal in Gebrauchswertform da, könne an ihr nicht mehr ein Unterschied zwischen dem Einfluss der Produktionsmittel und der lebendigen Arbeit unterschieden werden. Diese im Wert ausgedrückte gemeinsame Vergangenheit ließe sich gesamtgesellschaftlich immer als Summe der Werte aller hergestellten Produktionsmittel bestimmen, da der transferierte Wert hier nur aus der eigenen Branche stamme, während die Konsumtionsmittel produktiv durch die Arbeiter*innen konsumiert würden. Würde man alle Unternehmen, die Produktionsmittel herstellen, als einen uniformen Sektor zusammenfassen, könnte man auf den gesamten auch in den anderen Branchen transferierten Wert schließen und somit den Wert aller Konsumgüter ebenfalls berechnen.
Eine Frage der Abstraktionsebenen
Natürlich müsse man zur Kenntnis nehmen, dass die Bildung der Produktionspreise an der Oberfläche der Erscheinungen chaotisch von statten gehe. Daher braucht es verschiedene Ebenen der Abstraktion, die jeweils unterschiedliche Momente der kapitalistischen Totalität erklären. Hier ist es wichtig, dass Prozesse der höheren Abstraktionsebenen nicht die Gesetze der tieferliegenden verletzen können. So stellt das gesamtgesellschaftliche Kapital eine tieferliegende Abstraktionsebene dar und die Verteilung der Mehrwerte auf die individuellen Kapitale darf nicht den gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess verletzen, sondern nur die Distribution erklären. Oder die Berechnung der Reproduktionskosten für die Arbeiter*innenklasse kann nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als Wert berechnet werden, während die einzelnen Warenkörbe oder Anteile am Wert für die individuellen Arbeiter*innen sehr verschieden ausfallen können.
Ghamin unterscheidet insgesamt in drei größere Abstraktionsebenen. Die erste Abstraktionsebene ist die der Warenproduktion, in der die Werte der Waren durch die abstrakte, das heißt gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit, bestimmt werden. Die zweite ist die der kapitalistischen Produktion eines Kapitals, die sich beispielsweise schon dadurch unterscheidet, dass die lebendige Arbeit in Form eines gezahlten Lohns und damit als Anteil des variablen Kapitals am Gesamtkapital auftritt. Hier tritt die lebendige Arbeit auch in ihr Verhältnis zur bereits vergegenständlichten Arbeit und dem Preis als gemeinsamen Wertmaßstab. Und die dritte Abstraktionsebene ist die der kapitalistischen Produktion mehrerer Kapitale, in der diese je nach ihren organischen Zusammensetzungen ihren Anteil an der Mehrwertmasse erhalten. Da zunächst die abstrakte Arbeit gleichermaßen die lebendige und vergegenständlichte Arbeit umfasst, die Unterscheidung zwischen beiden in variables und konstates Kapital die Größe des Profits, bei mehreren Kapitalen auch deren Verteilung erklärt, kann rückblickend keine Erscheinung auf höherer Ebene die Erklärung durch die tieferliegende Abstraktionsebene verletzen. So erscheint der Profit als Aufschlag auf den Kostpreis, bei dem jede Trennung zwischen wertübertragendem konstanten Kapital und wertschaffendem variablen Kapital aufgehoben ist, der Mehrwert aber auf einer tieferliegenden Schicht als Aufschlag auf das variable Kapital. Gesamtgesellschaftlich also die Summe aller Profite mit der Summe aller Mehrwerte gleichzusetzen, würde keine der Abstraktionsebenen verletzten. Somit wäre bereits eine Invarianzbedingung auch theoretisch erklärt.
Temporal verhalten sich die einzelnen Ebenen zueinander, weil die Transformationen zwischen den Abstraktionsebenen reale Prozesse in der Zeit sind. Da auf der Oberfläche der Erscheinungen variables und konstantes Kapital unauflösbar im Kostpreis aufgehoben sind – und es ist der reale Prozess des Kaufs der Produktionsmittel und der Zahlung des Lohns, welcher die Kapitalbestandteile in den Kostpreis verwandelt – kann das Wertgesetz seine Begründung nicht aus der unmittelbaren Anschauung schöpfen. Mit der realen Transformation von Kapitalbestandteilen in Kostpreise wird auch der Mehrwert in Profit verwandelt, wechselt die Wertübertragung also die Abstraktionsebene und auf die quantitativen Verhältnisse zwischen den Kapitalen. So muss der Gesamtprofit immer dem Gesamtmehrwert entsprechen, auch wenn er sich auf die verschiedenen Kapitale unterschiedlich verteilt.
Zur Logik des Ebenenwechsels
Es wäre nun aber genau verkehrt, für ein einzelnes Kapital den Kostpreis vom Produktionspreis abzuziehen und den Profit in Preisform mit dem Mehrwert in Wertform zu verwechseln. Schließlich wird der gesamte Mehrwert bei der Verwandlung der Mehrwertrate in die Profitrate unter den Kapitalen verteilt. Der Wert der Waren besteht eben nicht nur aus den Arbeitsstunden in durchschnittlicher Intensität und Produktivität, sondern auch der umverteilten Arbeiten vorangegangener Produktionsperioden in Form der Produktionsmittel. Da es in der vergegenständlichten Form der fertigen Ware keinen Unterschied mehr zwischen der lebendigen und der toten Arbeit gibt, sondern im abschließenden Produkt die beiden während der Produktion unterschiedlichen Formen nun beide als tote Arbeit vorliegen, erfolgt in der Distribution – nicht anhand der in der Produktionsperiode geleisteten wertbildenden Arbeit, sondern anhand aller in der Waren kristallisierten abstrakten Arbeit – die unterschiedliche Aufteilung des Mehrwerts auf die einzelnen Kapitale. Die Ebene des variablen und konstanten Kapitals ist damit eine Zwischenebene, die explizit nur während der Produktion auftritt, um den Mehrwert an sich und die Größe des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts zu erklären. Vor der Produktion verschwindet die kategorische Unterscheidung im Kostpreis und nach der Produktion im Produktionspreis.
Ghamin unterscheidet abschließend zwischen einem integrierten Werttransfer und einem laufenden Wertransfer. Der integrierte Werttransfer besteht aus der Summe der vergegenständlichten Arbeit aller Produktionsmittel und transferiert den Wert zwischen den einzelnen Produktionsperioden. Der laufende Werttransfer verteilt den Gesamtmehrwert einer Produktionsperiode entsprechend der Proportionalitäten von lebendiger und toter Arbeit unter den einzelnen Kapitalen, trägt aber nicht zur Wertsteigerung zwischen den Perioden bei. Der laufende Werttransfer in den Konsumtionssektor beeinflusse nur Konsumtion durch die einzelnen Branchen und sei für die weitere Reproduktion unbedeutend. Ob also das Industriebrot im Vergleich zum Fischbrötchen mehr Wert für sich beansprucht, als ihm nach lebendiger Arbeit zukommt, ist egal. Findet der laufende Werttransfer aber in den Produktionsmittelsektor statt, beeinflusst dieser auch den integrierten Werttransfer in die nächste Produktionsperiode.
Mit dieser Logik eines Abstraktionsebenenwechsels, der zeitlich in der Produktion und Distribution geschehe, zeigt Ghamin abschließend, dass es möglich ist, das Drei-Sektoren-Rechenbeispiel von Bortkiewicz algebraisch zu lösen, an Hand dessen dieser eigentlich zeigen wollte, dass es nicht lösbar sei. Damit bekomme eine Unterscheidung zwischen Werten und Preisen eine realistische mathematische Abbildung, sei in sich konsistent und stelle insbesondere iterative Verfahren wie die Shaikhs auf ein theoretisch solideres Fundament. Die empirische Qualität des Wertbegriffs in der Gesamtproduktion und insbesondere für einzelne Kapitale bleibt hingegen offen.
Zusammenfassung
Ghamin sieht den großen Fortschritt seiner Interpretation in der Aufrechterhaltung der Distanz zwischen Wert und Preis. Während die Single-System-Analysen den Unterschied per se wegdiskutierten – entweder indem sie den Preis gleich als adäquaten Ausdruck des Wert ansähen oder indem sie den Wechsel von Werten und Preisen als ein temporales Phänomen auffassten –, würde auch die Standardinterpretation des Transformationsproblems durch die Einführung einer Normalisierungsfunktion eigentlich den essentiellen Unterschied zwischen beiden Kategorien verwischen. Ohne eine strenge und kategorische Unterscheidung von Werten und Preisen sei aber weder der Werttransfer in der Zeit zwischen den einzelnen Produktionsperioden noch zwischen den Branchen in der Distribution zu verstehen. Am meisten ähnelt Ghamins Herangehensweise sicherlich den iterativen Verfahren, auch wenn er mehr Wert auf die Trennung der einzelnen Abstraktionsebenen legt.
Ghamins Ansatz ist jedenfalls eine neue Attraktion im Zoo der Lösungen des Transformationsproblems. Und die geringste Leistung wäre es bereits, zu zeigen, dass sich das von-Bortkiewiczsche Gegenbeispiel zu Marxens Transformationsprozedur mit temporalen Gleichungen konsistent abbilden und lösen lässt.
Literatur:
Ghamnin, M. et al. (2024): Temporality and Stratification in the Transformation of Value into Price. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 15. Ausgabe 2. S.231-260.