Sind informelle Arbeiter*innen in Afrika die neuen schlesischen Weber?

⋄ In Afrika kommt es regelmäßig zu sozialen Aufständen und es organisieren sich viele sozialistische Organisationen neu.

Allerdings stellt sich die Frage, ob ohne ein entwickeltes Industrieproletariat diese Aufstände auch erfolgreich in eine sozialistische Revolution weiterentwickelt werden können.

⋄ Joshua McDermott argumentiert in der
International Critical Thought, dass die informellen Arbeiter*innen Afrikas sogar niemand anderen belämpfen könnten als die gesamte kapitalistische Gesellschaft.

⋄ Er sieht eine historische Parallele zum Aufstand der schlesischen Weber von 1844, über den Marx sagte, dass er dort begann, wo die Aufstände des englischen Proletariats aufhörten.

⋄ Weiterhin kritisiert er Etappismus, Factory-Work
erism und eine Ablehnung des Lumpenproletariats.

In Afrika formieren sich wieder politische und soziale Bewegungen, die antiimperialistisch ausgerichtet sind und die mit Verstaatlichungen, Preisfestsetzungen oder Lohnerhöhungen die unmittelbaren Interessen der Arbeiter*innen adressieren. Manch einer träum schon von neuen sozialistischen Revolutionen. Aber wer wäre das revolutionäre Subjekt? Die Industriearbeiterschaft ist marginal. Der Großteil arbeitet als formell freie, aber reell unter das Kapital subsummierte Bauern. Dazu kommen hunderte Millionen an Kleinhändlern. Können diese wirklich ein revolutionäres Klassenbewusstsein ausbilden?

Joshua McDermott argumentiert in der aktuellen International Critical Thought, dass dies nicht nur möglich, sondern gar zwangsläufig sei. Und er bezieht sich dabei sehr zentral auf den Aufstand der Schlesischen Weber 1844. Weben die informellen Arbeiter*innen Afrikas gerade wirklich am Leichentuch des Imperialismus?

Das Proletariat als revolutionäres Subjekt

Wir beginnen zunächst mit dem Kerngedanken McDermotts. Er behauptet, dass das revolutionäre Potential Afrikas von der westlichen Linken erheblich unterschätzt werde. Das liege daran, dass die Fabrikarbeiterschaft nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmache und die formelle Lohnarbeit nicht das Hauptcharakteristikum der afrikanischen Arbeiter*innenklasse ausmache. Viele Menschen arbeiteten als Vertragsbauern (Näheres hier) in Scheinselbständigkeit, seien nur informell beschäftigt und auf Grund des Zugriffs auf Almenden oder kleine landwirtschaftliche Nutzflächen nur halbproletarisiert (Näheres hier). Daher hätten sich auch nicht genau die Organisationsformen ausgeprägt wie in den imperialistischen Zentren.

Dennoch erkennt McDermott folgenden Prozess. Da fast alle Menschen real unter das Kapital – das imperialistische oder das Kompradorenkapital subsummiert – seien, würde sich auch die Organisationspraxis proletarischen Kampfformen angleichen. Bündnisse von Kleinbauern erkämpfen kollektive Verträge. Viele bilden einen notwendigen politischen Arm mit teilweise sozialistischen Zielstellungen. Die Disziplinierung, die bei formellen Arbeiter*innen durch Schule, Fabrik und Büro geleistet werde, werde durch den politischen Kampf gegen zentralisierte Kapitale aufgezwungen. Durch den informellen Charakter der Kämpfe ließen sich diese nicht so leicht von staatlicher Seite einhegen und häufig richteten sich die Kämpfe auch gegen die Staaten, die im Interesse der Kompradoren und des imperialistischen Kapitals stünden.

Die reale Selbstproletarisierung formell nicht lohnabhängiger Klassen ist dabei eine durchaus originelle Beschreibung einer Klassengenese. Konkret etwa richte sich die National Union of Metal Workers of South Africa immer mehr an informell beschäftigten Arbeiter*innen aus. In Nigeria organisierten sich diese zur Federation of Informal Workers und in Sierra Leone und Liberia seien stark links ausgerichtete Kleinhändlerverbände geschaffen worden. Die Frage, die sich McDermott nun stellt, ist die, warum dieses Phänomen solange übersehen worden sei.

Factory-Workerism bei Marx?

Das führt er auf einen so genannten Factory-Workerism (Fabrikarbeiterismus) zurück. Dieser grenze sich vom Lumpenproletariat ab, das als unberechenbar, leicht bestechlich, kriminell und leicht durch Bonarpatisten zu gewinnen gilt. Marx beschrieb mit dem Begriff jene Klasse, die im Zeitalter der ursprünglichen Akkumulation in die Städte wanderte und noch nicht der Fabrikdisziplin unterworfen war. McDermott nimmt mit einer überhistorischen Verwendung, die sich auf eher nichtmarxistische Linke wie Thoburn stützt, dem Begriff leider seine historische Konkretheit. Auch schmeißt er viel mit der industriellen Reservearmee zusammen, was der Schärfe des Arguments abträglich ist. Mit einer Neuinterpretation des Lumpenproletariats im Sinne einer „gefährlichen Klasse“ (Näheres hier) will McDermott darauf aufmerksam machen, dass Gefährlichkeit in einer revolutionären Wendung durchaus zu begrüßen sei anstatt verachtet zu werden.

Er führt als historisches Beispiel den Aufstand der schlesischen Weber von 1844 an. Dieses Ereignis seit tief in der Aufstandsgeschichte des Proletariats verankert, auch wenn die Weber damals weder in Fabriken, sondern größtenteils in Heimarbeit gearbeitet hätten. Häufig seien nicht mal einfach entlohnt wurden, sondern durften sich nur einen Teil des Fertigprodukts behalten, mit dem diese dann handeln konnten. Auch mussten viele ihre Rohmaterialien ankaufen und die Erzeugnisse verkaufen, sodass im großen Bild kaum von einer formell unter das Kapital subsummierten Arbeiterklasse gesprochen werden kann. Der Aufstand richtete sich daher nicht gegen einen speziellen Kapitalisten, sondern adressierte aus der Not heraus die gesamte Gesellschaft. In einer Replik auf Eugen Ruge, welcher den Aufstand als sinn- und fruchtlos abqualifizierte, argumentierte Marx in einem Artikel des Vorwärts (Fun Fact: der letzte Artikel der MEW, bevor er das erste Mal mit Engels zusammentraf) für die überwältigende Bedeutung des Weberaufstands:

„Er wird finden, daß kein einziger der französischen und englischen Arbeiteraufstände einen so theoretischen und bewußten Charakter besaß wie der schlesische Weberaufstand.

Zunächst erinnere man sich an das Weberlied, an diese kühne Parole des Kampfes, worin Herd, Fabrik, Distrikt nicht einmal erwähnt werden, sondern das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit. Der schlesische Aufstand beginnt grade damit, womit die französischen und englischen Arbeiteraufstände enden, mit dem Bewußtsein über das Wesen des Proletariats. Die Aktion selbst trägt diesen überlegenen Charakter. Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, und während alle andern Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind. Endlich ist kein einziger englischer Arbeiteraufstand mit gleicher Tapferkeit, Überlegung und Ausdauer geführt worden.

MEW 1, S.404

McDermott zieht eine Parallele zwischen den schlesischen Webern und dem modernen urbanen afrikanischen Arbeiter*innen: die allgemeine Verelendung, die Halbproletarisierung, die Informalität der Beschäftigung, der semiperiphere Status.

Factory-Workerism nach Marx

Während also bei Marx kaum ein banaler Factory-Workerism zu finden ist – auch der späte Marx etwa sah eigenständige Entwicklungswege für die russische Bauernschaft oder lobte die von noch nicht formell unter das Kapital subsummierten Handwerkern getragene Pariser Commune – war es nach McDermott vor allen Dingen Kautsky, welcher die Fetischisierung der Industriearbeiterschaft vorangetrieben hätte. Nach ihm konnte der Sozialismus nur in den entwickeltesten Ländern Fuß fassen, als deren charakteristisches revolutionäres Subjekt eben jenes Industrieproletariat identifiziert wurde. Nur dieses sei durch die Fabrik bereits soweit vergesellschaftet, dass es Arbeitsteiligkeit im Sozialismus nicht erst lernen müsse, sondern die eigene Mitbestimmung als Befreiung empfinde. Eine ganz praktische Kritik nahm Lenin vor, der bereits im vom Weltkrieg geschwächten zaristischen Russland als schwächstem Glied in der imperialistischen Kette eine sozialistische Revolution anführte. Dem Etappismus gab er dabei insofern Recht, als dass die Petersburger Arbeiterschaft tatsächlich die treueste Fraktion in der Revolution war, während sich die Bauern zunächst eigentlich komplett selbstständig machen wollten, anstatt in Austausch mit den Städten zu treten. Stalin baute darauf eine ganz eigene Etappentheorie auf, welche es den Bolschewiki erlaubte, in den kolonialen und imperialistisch dominierten Ländern mit der nationalen Bourgeoisie zusammenzuarbeiten, um erst die nationale Befreiung und dann die sozialistische Revolution anzustreben. In China schlug der Versuch zunächst fehl, sodass Mao seine ganz eigene, auf die Bauernschaft gestützte Strategie entwickelte. Auf Kuba und in Vietnam kann man argumentieren, dass die Revolutionäre zunächst in nationalen Befreiungsbewegungen agierten, die sie erfolgreich in sozialistische Revolutionen transformierten. Trotskis Konzept der permanenten Revolution hingegen ließ sich gut mit der ungleichmäßigen Entwicklung kombinieren und erlangte insbesondere in Südamerika eine gewisse Bedeutung.

In Afrika selbst konnten die dekolonialen Aufstände zwar Erfolge erringen, aber kaum das Maß einer allgemeinen Vergesellschaftung erreichen, dass sozialistische Ansätze lange überleben konnten. McDermott sieht das Scheitern sozialistischer Bewegungen in Afrika zum einen darin begründet, dass die bisherige auf das Industrieproletariat fokussierte Theoriebildung keine Konzepte für Afrika entwickeln konnte und umgekehrt die anti-marxistischen Kräfte auf Grund der fehlenden Anwendbarkeit auf Afrika an Stärke gewannen. Auch moderne halbmarxistische Konzepte wie den US-amerikanischen Machtquellen-Ansatz kritisiert McDermott als zu blind gegenüber dem revolutionären Potential informeller Arbeiter*innen. Den Fakt, dass das 21. Jahrhundert bisher eher Aufstände und Massenbewegungen, die nicht organisch zwischen formellen und informellen Arbeiter*innen unterschieden, sieht er noch als blinden Fleck in der Debatte.

Vier Einwürfe

McDermott kommt deshalb zu vier Annahmen, um diese Leerstelle zu beheben. Die erste Annahme ist, dass die Aufstände informeller Arbeiter*innen sich stärker gegen die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes richten, weil sie nicht dem einen Kapitalisten gegenüberstehen. Industriearbeiter*innen hätten, insbesondere im Westen, hingegen recht erfolgreiche Arbeitskämpfe geführt, die zu einer Art „Klassendünkel“ ausgewachsen seien. Sozialpartnerschaft sei etwas, das tatsächlich materielle Vorteile biete. Für viele sichert der Staat die Renten oder die Arbeitslosenversicherung. Wie gut die Stellung westlicher Arbeiter*innen sei, zeige schon der Drang des imperialistischen Kapitals nach Outsourcing. Das Ziel informeller Arbeiter*innen sei hingegen der ganze Staat und/oder dessen Grundlagen. Zweitens hätten informelle Arbeiter*innen wirklich nicht mehr zu verlieren als ihre Ketten. Während die formellen Arbeiter*innen sich leicht zu reformistischen Zwecken organisieren können und auch die Früchte dieser Organisation genießen, sind es die informellen Arbeiter*innen, die keine Tarifverträge und betrieblichen Rentenkassen zu verlieren haben. Drittens sei die Masse informeller Arbeiter*innen durch ihre individuelle Heterogenität global gesehen homogener. Das Proletariat lasse sich leicht hierarchisch Schichten, nach Berufsgruppen aufteilen oder nach Qualifikation. Unter informellen Arbeiter*innen seien zwar sehr viele verschiedene Qualifikationen und Lebenslagen festzustellen, aber da diese nicht so strukturiert, sondern bunt durchmischt sind, ist das politisch Einende tatsächlich das umfassende Klasseninteresse und nicht das Partikularinteresse einer begrenzten Gruppe an Kolleg*innen. Als Beispiel führt McDermott Sierra Leone an, wo über 75% der Bevölkerung den Arbeiter*innen auf eigene Rechnung angehört. Eine vergleichbar große gesellschaftliche Gruppe gebe es in keinem westlichen Land. Viertens dürfe man nicht vergessen, welche Bedeutung informelle Arbeit in den globalen Wertschöpfungsketten spiele. Viele Arbeitermarxisten hätten die hervorgehobene Stellung der Fabrikarbeiter*innen damit begründet, dass diese wirklich am materiellen Hebel der Gesellschaft säßen. Aber ohne die informelle Arbeit im Bergbau oder eben in der Landwirtschaft, entgleitet diesen der Hebel wieder. Das berührt auch die Frage, welche Arbeiter*innen eigentlich alles an der Mehrwertproduktion beteiligt seien. Und hier unterscheidet McDermott leider wieder nicht. Der Straßenverkäufer für kleine Konsumgüter schafft keinen Mehrwert, der eigenstaändige Vertragsbauer hingegen schon, auch wenn der erst der anschließende Händler im Akt des Weiterverkaufs diesen realisiert. Welche Auswirkungen das für die politische Formierung hat, wird nicht angerissen. McDermott hat schon Recht, dass das marxistische Konzept der Mehrwertproduktion hier noch nicht auf alle Fragen seine Antworten expliziert hat, aber er leistet hier leider auch keinen Beitrag.

Zusammenfassung

Und das kann man auch im Fazit für den gesamten Artikel festhalten. McDermott stellt die durchaus spannende Frage, inwiefern das informelle Proletariat in Afrika als revolutionäres Subjekt konzeptionalisiert werden könnte. Leider kommt außer der prinzipiellen Möglichkeit der Entwicklung eines gemeinsamen Klasseninteresses wenig bei rum. McDermott untersucht kaum historisch konkret, welche Klassenfraktionen der informellen Arbeiter*innen denn wo und wie ihre Interessen erfolgreich oder weniger erfolgreich vertreten haben. Platz genug wäre gewesen, denn die seitenlangen Kritiken an der vermeintlichen Diffarmierung des Lumpenproletariats oder dem Factory-Workerism bringen als reine Abgrenzungsdebatten die Analyse nicht wirklich vorwärts, sondern bleiben oberflächlich und ahistorisch. Gegentendenzen gegen das revolutionäre Bewusstsein der informellen Arbeiter*innen ignoriert McDermott einfach. Die Vemittlungsformen, mit denen nämlich deren Aufstände eingehegt werden – wenn auch nicht der Tarifvertrag ist, aber teilweise die Integration im Militär (Näheres hier) oder Spaltungen entlang von Stammeslinien -, werden kaum problematisiert. Das wäre aber eben umso notwendiger in Anbetracht dessen, dass es in Afrika eben in den vergangenen Jahrzehnten nur bei Aufständen geblieben ist. Dass der Kontinent gärt, kann keinem der Augen hat, entgangen sein. Welche Hefe den Gärprozess weiter treibt, sollte, darin ist McDermott im Recht, analysiert werden; aber besser.

Literatur:

McDermott, J. (2025): Reclaiming the Class Struggle in AfricaToday: Four Propositions on the Revolutionary Potential of the Urban Working Class in Africa and a Marxist Critique of Factory-Workerism. In: International Critical Thought. Jahrgang 15. Ausgabe 2. S.268-294.

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