Soziologie in Berlin (Hauptstadt der DDR)

⋄ Die Gesellschaftwissenschaften der DDR genießen heute noch einen schlechten Ruf als politisch indoktiniert.

⋄ Barbara Grüning analysierte die Soziologie in Ostberlin, indem sie 63 Forscher*innen nach institutionellen und politischem Kapital kartografierte und Interviews führte.

⋄ Sie zeigt auf, dass die Abhängigkeit der soziologischen Forschung von politischer Beeinflussung nicht linear gedacht werden darf.

⋄ Vielmehr hätten sich Entwicklungsdynamiken herausgebildet, die auf der Wechselwirkung zwischen verschiendenen Motivlagen und biografischen Hintergründen beruhten.

⋄ Auch der Unterschied zwischen den Generationen und die Kommunikation mit dem Ausland habe zu einer Heterogenität geführt, die heute unterschätzt wird.
DDR: Alle im Gleichschritt?

Wovon spricht man, wenn man „DDR-Soziologie“ sagt? Von der Entfaltung einer Wissenschaft unter den ganz konkreten Bedingungen eines auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgebauten sich sozialistisch verstehenden Staates? Von einer durch den Marxismus-Leninismus geprägten Interpretation einer Wissenschaft? Vom kollektiven Werk der Soziolog*innen in der DDR oder von den Menschen, welche diese Werke verfasst haben? Oder einfach von der Negativfolie einer politisch indoktrinierten unfreien Wissenschaft gegenüber der heutigen jeglicher Ideologie und politisch-ökonomischen Beeinflussung unverdächtigen freien Soziologie?

Barbara Grüning von der Universität in Mailand Bicocca hat im Journal of Classic Sociology das Werk und Wirken von 63 ostberliner Soziolog*innen analysiert, um tiefer in die Geschichte der Wissenschaft einzutauchen. Sie eröffnet damit einen facettenreichen Blickwinkel auf die Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik in der DDR, die sich mit dem Begriff Totalitarismus nicht redlich beschreiben lassen.

Die Problemlage

In der öffentlichen Meinung waren die Gesellschaftswissenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik durch eine Reduktion auf den Marxismus-Leninismus, politische Gängelung und Legitimationsdruck für den Herrschaftsanspruch der SED geprägt. Barbara Grüning erforschte das Feld der Soziologie in Ostberlin und kam – um es vorweg zu sagen – zu dem Schluss, dass sich die Lage weit weniger homogen darstellte, wie gerne kolportiert wird. Allein die westliche Soziologie zu Zeiten des Kalten Krieges wies ein pluraleres Verhältnis zu ihren Kolleg*innen im Osten auf. So gab es nicht nur antikommunistische Wissenschaftler*innen, welche die Forschung in der DDR überhaupt als irrelevant betrachteten. Es gab auch KPD- und später DKP-nahe Intellektuelle, die sich ganz gegenteilig weitestgehend unkritisch die DDR-Soziologie zum Vorbild nahmen. Zwischen diesen beiden Extremen gab es auch neo-marxistische Strömungen, die zwar Begriffe und Ansätze teilten, jedoch auf die Distanzierung von der DDR als unfreiheitlichem Sozialismus bestanden. Ind es gab pragmatische Ansätze, die originelle Erkenntnisse zu schätzen wussten, wenn gleich es Verständigungsprobleme wegen der Sprache und des Umfeldes gab.

Die Soziologie in der DDR war dabei selbst von diversen Widersprüchen durchzogen. Der wichtigste war dabei nicht ein politischer, sondern ein konzeptioneller, der marxistische Wissenschaftler*innen bis heute beschäftigt. Wie kombiniert man dialektischen und historischen Materialismus mit den modernsten empirischen Methoden, die in der Regel aus bürgerlichen Gesellschaften stammen? Insbesondere in einer Gesellschaft, in der Klassenunterschiede kleiner werden sollten, würden andere Strukturierungsmuster deutlicher hervortreten. Aber waren nicht soziologische Einteilungen entlang von Geschlecht, Status, Milieu, Herkunft, Sozialisation etc. bürgerliche Konstruktionen, welche den Klassencharakter verschleiern sollte? Drohte mit der Übernahme bürgerlicher Heuristik nicht auch eine Verbürgerlichung der Wissenschaft im Allgemeinen? Das waren keine leicht zu beantwortenden Fragen und erst in zweiter Instanz spielen die politischen Rahmenbedingungen in die Entscheidung hinein.

So gab es natürlich Bestrebungen von Seiten der Politik, ihre Entscheidungen akademisch absegnen zu lassen. Allerdings gab es genauso ehrliches Interesse an der soziologischen Forschung zur Verbesserung und Rationalisierung der Planung, zur Integration der verschiedenen Gesellschaftsschichten in die staatliche Zielsetzung und als demoskopische Rückmeldung. Dem gegenüber stand ein wissenschaftlicher Apparat, der ebenso einerseits aus Opportunisten gegenüber der sozialistischen Ausrichtung der DDR zusammensetze, wie auch durch viele durch politischen oder wissenschaftlichen Ethos getriebene an ernsthafter Analyse interessierte Forscher*innen. Die Wechselwirkung zwischen Soziologie und Politik konnte somit vier Fälle annehmen. Trafen politische und wissenschaftliche Opportunisten aufeinander, konnte man sich auf Kosten der Qualität gegenseitig in die Karten spielen. Mit produktiverem Ausgang war die Paarung ehrlicher Politiker*innen und Forscher*innen möglich. Persönlich problematisch wurde es, wenn einem opportunistischen, aber mächtigen Politiker aus der ehrlichen Soziologie Widerspruch erfuhr oder wenn der Opportunismus der Forschung der progressiven Entwicklung im Wege stand. Das eigentliche Problem in Politik wie Wissenschaften war es, unter den spezifischen Bedingungen des Primats der SED die Fälle zu trennen und zu entscheiden, bzw. Interventionen zu ermöglichen.

Ein drittes Problemfeld ist der Anpassungsdruck der DDR-Soziolog*innen nach der Wende. Gerade in den Gesellschaftswissenschaften wurde als doktrinär verschrienes Personal schnell vor die Tür gesetzt, so dass ein Druck auf die verbleibenden Akademiker*innen bestand, sich von Dialektik und Marxismus-Leninismus loszusagen, ihre bisherige Forschung auf den Druck der Parteiführung zurückzuführen und sich ein Selbstkonzept als stille oder offene Widerstandskämpfer*in zurecht zu legen. Damit starben über Nacht ganze Forschungszweige aus, die in der Rückschau als fruchtbar angesehen werden können, aber durch ihren 30jährigen Winterschlag an Aktualität eingebüßt haben.

Methodik der Feldstudie

Grünings Fokus lag nun nicht auf den Inhalten oder der Qualität der soziologischen Forschung in der DDR, sondern auf dem Modus, wie sie sich als Wissenschaft selbst organisierte und in welcher Wechselwirkung sie zum politischen System stand. Neben den Kategorien und Begriffen, sowie Originalität und wissenschaftlicher Relevanz lag das Augenmerk auf Praktiken, habituellen Formen, politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der soziologischen Community der Hauptstadt. Berlin als Ort eignete sich für die Analyse nicht nur auf Grund der Vielzahl an gesellschaftswissenschaftlichen Einrichtungen, sondern auch wegen der (schon allein physischen) Nähe zu den zentralen politischen Institutionen. Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Bereiche war es hier leichter, persönlich in Kontakt zu kommen.

Grüning hat für ihre Forschung zwischen 2017 und 2021 Archive und Dokumente durchforstet. Um ihr Feld zu ordnen, hat sie sich der Kategorien des institutionellen und des politischen Kapitals von Pierre Bourdieu bedient. Aus diesen beiden Kategorien hat sie sechs Indizes entwickelt. 63 Soziolog*innen, die entweder am Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Soziologie mitgearbeitet haben oder die in internationalen Publikationen veröffentlicht wurden, hat sie anhand dieser Indizes zwischen 0 und 5 bewertet. Ihre Erkenntnisse hat sie in halbstrukturierten Interviews mit Jutta Begenau and Frank Adler nochmals framen lassen, wobei Begenau eher zum oppositionellen Flügel und Adler zum institutionsnahen gehört. So erstellte sie eine Typologie des ostberliner soziologischen Feldes, das nun in Kürze nachgezeichnet werden soll.

Typologie der DDR-Soziologie

Den Kern der „DDR-Soziologie“ bildete entgegen gängiger Vorurteile nicht eine besonders politisch motivierte Schicht, sondern interdisziplinäre Forscher*innen. Diese begründeten neue Teilbereiche der Soziologie, wie die der Kommunikation von Jürgen Kuczynski oder der Medizin von Kurt Winter. Diese führenden Köpfe waren auch auf internationaler Ebene angesehen.

Wie fast alle Bereiche des Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik war auch die Soziologie vom Einfluss unterschiedlichster Generationen beeinflusst. Vier Generationen lassen sich hier prototypisch charakterisieren. Erstens Wissenschaftler, die bereits in der Weimarer Republik an den Universitäten arbeiteten. Diese waren noch geprägt von der relativen akademischen Freiheit der ersten deutschen Republik. Viele von diesen gingen freiwillig in die DDR, da sie dem Sozialismus gegenüber positiv eingestellt waren oder unter dem Nationalsozialismus Repression erfahren hatten. Sie stellten sich sehr engagiert in den Dienst des sozialistischen Aufbaus, ohne den Marxismus-Leninismus als einfache Dogmenlehre wiederzukäuen. Ihren geschulten soziologischen Augen waren aber für die realen Probleme des Aufbaus offen, weshalb sie Verständnis auch für unpopuläre Maßnahmen der politischen Führung zeigten. Die zweite Generation begann ihre Laufbahn im Nationalsozialismus. Sie waren in der Regel nicht übermäßig kompromittiert und blieben aus Opportunismus in der DDR. Diese waren leicht für eine dogmatische Interpretation des ML zu gewinnen, da sie diesen nicht aus freien Stücken befürworteten, sondern aus Mangel an Alternativen. Letztendlich sagt ihre politische Indifferenz jedoch wenig über den akademische Leistungsfähigkeit aus, weshalb sich hier viel Licht und Schatten findet.

Die dritte Generation war die erste in der DDR akademisch ausgebildete. Viele entstammten nicht, wie die vorherigen Generationen weitestgehend akademischem Familienhintergrund, sondern gelangten durch die spezielle Förderung von Arbeiter*innen und Bäuer*innen als Neulinge in diese Positionen. Diese waren auf der einen Seite dem neuen politischen System für diese Chance dankbar, gerieten aber auf Grund ihrer Unerfahrenheit schnell unter politischen und Anpassungsdruck. Auch hier ist die Qualität ganz unterschiedlich. Manche gaben dem Druck nach, andere tradierten die originellen Erfahrungen ihres außerakademischen Hintergrund fruchtbar in die Wissenschaft hinein.

Zum Schluss gab es die Folgegeneration der in der DDR ausgebildeten Akademiker*innen. Diese bemaßen ihre soziale und materielle Stellung in der DDR nicht mehr im Vergleich zur Vorkriegszeit, sondern zur frühen DDR-Zeit und spürten die Ende der 60er Jahre einsetzende politische und wirtschaftliche Stagnation. Sie wurden darüber hinaus nicht unbedingt grundlegend antisozialistisch oder oppositionell, suchten aber dennoch nach Alternativen und dritten Wegen.

Diese unterschiedlichen Hintergründe und Motivlagen führten innerhalb der Soziologie und in der Wechselwirkung zwischen Politik und Wissenschaft zu charakteristischen Dynamiken.

Dynamiken der DDR-Soziologie

Gegen die rein propagandistische und dogmatische Interpretation der DDR-Soziologie sprechen die soziologischen Dynamiken selbst. Auf der einen Seite konnte ein Kern von Soziolog*innen natürlich deshalb Karriere machen, weil ihr Beitrag als wesentlich für eine marxistisch-leninistische Weltanschauung angesehen wurde. Ob die entscheidenden Gremien in der Lage waren, eine wissenschaftliche Bewertung leisten zu können sei dahingestellt. Aber sie galten der politischen Führung als Standpfeiler in Lehre und Forschung. Diese Autoritäten hatten nun mit ihrer Position auch mehr wissenschaftliche Freiheit. Institutionelle Autoritäten waren nicht so leicht abzusägen, wie einfache Mitarbeiter*innen. Diese Freiheiten nutzten sie, um Brücken zu der „bourgeoisen“ Soziologie zu schlagen, wenn ihnen die Methoden dort adäquat erschienen. Und darauf konnten sich dann wiederum die unteren Ebenen beziehen, wenn sie diese Ansätze weiter führten.

Wie in allen Ländern war auch die Soziologie in der DDR eine Sammelwissenschaft, die sich erst nach und nach als eigenständige Wissenschaft mit ausgewiesenen Methoden und Selbstverständnissen etablierte. Viele Soziolog*innen kamen aus der Philosophie oder Ökonomie, manche sogar aus der Medizin. Dies hatte zwei Folgen: Erstens wurde die Soziologie damit im Vergleich zur Ökonomie und Philosophie von der politischen Führung als zweitrangig erachtet, was das Bedürfnis nach ideologischer Kontrolle reduzierte. Und zweitens bildeten sich durch den Sammlungscharakter viele informelle Netzwerke heraus, die gar nicht mehr politisch organisiert werden konnten.

Der Charakter der Repression gegenüber Abweichler*innen in der Soziologie war gering. Manchmal durften Werke eine Zeit lang nicht veröffentlicht werden. Dies behinderte womöglich eine akademische Karriere für einige Jahre, war aber auf Grund des sozialistischen Anspruchs der DDR nicht mit materiellen Nachteilen verbunden. Die Forschung selbst wurde bezahlt, nicht nur die Veröffentlichung. Manchmal wurde auch nur eine Veröffentlichungsform untersagt, sodass zum Beispiel der Inhalt verkürzt als Zeitungsartikel und nicht als Monographie erschien. Die interviewte Jutta Begenau musste auf Grund der Verteilung von Flugblättern gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR zwei Jahre auf ihren Studienplatz warten, aber das ist dann schon eines der härteren Schicksale.

Zusammenfassend konnte Grüning jedenfalls keine Korrelation zwischen der Nähe zum Marxismus-Leninismus und den Karrieremöglichkeiten innerhalb der Soziologie feststellen. Während zwar die Nähe zum ML garantierte, dass Werke am Ende auch veröffentlicht wurden, schien die intradisziplinäre Forschungskultur auch „neutralen“ Soziolog*innen entsprechende Anerkennung zuteil werden zu lassen.

Zusammenfassung

Die Auffassung, dass die Suspendierung der DDR-Wissenschaften in den Nachwendeprozessen ein Fehler war, setzt sich immer mehr durch. Die Stigmatisierung als reine Propagandawerkzeuge der SED verkennt den heterogenen Charakter der Sozialwisschenschaften im zweiten Deutschland und deren inhärente Entwicklungsdynamiken. Die Entsorgung dieses Teils der deutschen Wissenschaftsgeschichte unter falschen Prämissen bedeutete einen Rückschritt in der gesamtdeutschen Soziologie und entlarvt die Unkenntnis der damaligen Entscheidungsträger*innen. Barbara Grünings Aufsatz bietet hier einen interessanten Einblick in die Forschungstradition, auch wenn einige problematische Aspekte ihrer Bourdieuschen Methodik, insbesondere die recht willkürliche Quantifizierungen von institutionellem und politischem Kapital, überflüssig sind. Wenn es jedoch geholfen hat, die breite Quellenlage zu strukturieren, dann soll das auch nicht schlimm sein.

Der Umgang mit der DDR ist auch in der Linken noch umstritten. Während sie für die einen der einzige deutsche Friedensstaat und ein ehrbarer sozialistischer Versuch nach der Barbarei des Hitlerfaschismus bleibt, gilt sie anderen auf Grund von Demokratiedefiziten auf nationaler Ebene, autoritären Formen und wirtschaftlicher Probleme als ein Sozialismus, den man nicht wolle. Der Aufsatz von Brüning zeigt jedoch, dass wir erst noch viel mehr über die DDR begreifen müssen, bevor wir es bewerten können.

Literatur:

Grüning, B. (2023): Marxist sociology in East Berlin (1949–1989): A field-spatial analysis. In: Journal of Classical Sociology. Online First. DOI: 10.1177/1468795X231159618.


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